Es ist ein langer Weg….
(Eine Reise des Glaubens und Nichtmehrglaubens.)
In Zeiten der Krise kann sich die Persönlichkeit schneller verändern als in den Zeiten, in denen es im Leben glatt geht. Bei mir ist da so.
Dazu gehört auch die Suche nach einem Glauben, der trägt, und einem Glaubensort, der mir Heimat ist.
Ich ging in die Therapie meiner Krebserkrankung hinein in der Gewissheit, dass der Glaube an Gott mich komplett hält. Die Voruntersuchungen und die ersten Wochen der Chemotherapie waren durchdrungen von den Psalmen der Schrift und den individuellen Gebeten.
Doch je länger die Therapie anhielt, desto schwieriger fiel es mir, an dem Glauben festzuhalten, der mich all die letzten Jahre ausgemacht hatte. Mit der in meiner christlichen Gemeinde mittlerweile dominanten Hillsong-Spiritualität konnte und kann ich ohnehin noch nie viel anfangen. Die eher calvinistisch begründete Theologie, die ich „im stillen Kämmerlein“ kultivierte ließ mich ohne Trost zurück, das war für eher etwas für die Kopf. Alles andere erschien mir fremd und bedeutungslos geworden.
Ich fand mich im Sommer 2017 bekanntlich im Krankenhaus wieder. Da waren Hochdosischemotherapie und Stammzellentransplantation angesagt. Ich hatte in dieser Zeit buchstäblich alle Hände voll zu tun, nicht die Nerven zu verlieren.
Es gibt im Leben von Christen Momente, da ist kein Gedanke mehr an Gott möglich. Bei mir war das im Krankenhaus in dieser Zeit oft der Fall.
Aber ich hatte eine Hoffnung: Spätestens mit dem Anbruch des Jahres 2018 sollte alles anders und besser werden. Mir war klar, dass das nur eine Atempause sein wird, aber immer noch schöner als der Mist, durch den ich 2017 gehen musste.
Doch folgte ab dem Spätherbst 2017 Krise auf Krise, in der Regel warfen mich Infektionen darnieder. Meine Frau Christiane hatte mitgezählt: Bis zum Herbst 2018 erfreute ich mich nicht weniger als sieben Infektionen, teils mit Fieber, teils mit Erkältung, teils mit Schmerzen.
Das hat natürlich etwas in mir verändert. Die Hoffnungen des Jahres 2017 waren zerstoben und neue Herausforderungen zeigten sich als Hochgebirge.
Am heftigsten tobten dabei die Kämpfe in der Seele.
Und irgendwo in dieser Zeit ging mir … der Glaube an Gott abhanden. Jedenfalls der Glaube daran, dass es dieser Gott gut mit mir meint. Er schien weit entfernt und an meinem Schicksal desinteressiert. „Nach Diktat verreist“ stand an seiner Bürotür.
Die uralte Frage „Warum das alles?“ kreiste durch meinen Schädel. Ja, warum? Die christlichen Antworten kannte ich alle: „Frag nicht warum, frag wozu?“ „Gott will dich erziehen.“ „Gott hat alles in der Hand.“ „Du kennst das ganze Bild noch nicht.“ usw. usf. Da war ich längst in einem Stadium, in dem ich nur sagen konnte: „OK, wenn ich Gott und seinen Kennern das alles abkaufe, dann muss doch irgendwann mal Schluss sein. Es MUSS IRGENDWANN MAL SCHLUSS SEIN MIT DIESEN GANZEN PRÜFUNGEN!“:
Aber es gab kein Schluss.
Infektion Ende Februar überstanden, Infektion Mitte April taucht auf…. usw. „Hast Du immer noch nicht genug, Gott?“ fragte ich mich. Jaja, mein alter Lehrmeister John Piper kam mir in den Sinn, der schrieb einen netten Sermon „Warum man nie sauer auf Gott sein darf.“ Ich war aber nicht nur sauer, ich war zornig. Jeder Gedanke an Gott rief Zorn, Wut, Aggression hervor.
Zu Ostern 2018 legte ich mein Gemeindeamt nieder, immerhin war ich ja pro forma immer noch Teil der Leitung dieser Gemeinde. Wie sollte ich aber ich eine Gemeinde leiten können, wenn ich um meine Gesundheit kämpfen soll und überdies eigener Glaube dahinschmolz wie ein Schneemann in der Frühlingssonne?
Der christliche Glaube hatte mir wenig bis nichts zu sagen. Tausendmal gehört, jetzt passiert nichts mehr. Gequatsche, für mein Leben irrelevant.
Was gibt es denn sonst so auf dem Weltanschauungsmarkt? Offenbarungsreligionen und Esoterik haben es bei mir schwer, es blieben nur: Buddhismus und Atheismus.
Also beschäftigte ich mich mit dem Buddhismus. Da fand ich tatsächlich einige hilfreiche Anregungen, wie ich mein eigenes Leiden deuten und transzendieren kann. Auch gibt es Hilfreiches zum Thema „Wie lebe ich im Augenblick?“ und „Wie gehe ich mit anderen Menschen um?“. Aber insgesamt war mir dieses philosophische System zu fremd. Mir schwirrte der Kopf von Begriffen wie Rad des Dharma, Karma und Mahayana. Da kam und komme ich nicht mit. Aber ich gestehe, dass ich immer von der Weisheits- und Gelassenheitslehre des Buddhismus profitiere.
Vielleicht aber ist der Glaube an einen Gott ohnehin nichts anderes als eine Illusion. „Gott existiert und er hat einen wundervollen Plan für Dein Leben“ hatte sich bei mir gerade erledigt. Auf diesen wundervollen Plan mit Krebs und Co kann ich gut verzichten. Da lag der Atheismus nahe. Und eines halte ich dem Atheismus zugute: Er hat bemerkenswert gute Argumente für seine durchweg humanistisch-säkulare Weltsicht. Viele dieser Argumente erhielten von mir einen Haken: Ja, das ist gut vertretbar, gut durchdacht und kann so hinkommen. Doch eines fehlt dem Atheismus, wie ich ihn kennengelernt habe: Er hat keine Musik. Ihm fehlt das Gespür für das Unerklärliche im Leben, das Gefühlige. Daher weicht er darauf aus, dass er sich selbst zur intelligentesten Weltanschauung erklärt. Das ist ist mir zu elitär. Eine unmusikalische Weltanschauung ist nichts für mich.
Was bitteschön ist mein geistliches Zuhause? Brauche ich überhaupt eines?
Gottseidank habe ich zwei sehr gute christliche Freunde, mit denen ich - ohne ein Blatt vor dem Mund zu nehmen - offen darüber sprechen kann. Da kann ich auch einmal Gedanken ins Unreine aussprechen, Gedanken, die noch nicht zu Ende gedacht sind. Da hat mir sehr geholfen.
Kann es sein, dass ich als durch die Krankheit heimatlos gewordener Mensch in diesen Menschen der Liebe Christi begegnet bin? Dass mich an diesem Ort die Liebe Gottes noch einmal eingeholt hat? Vermutlich. Sehr stark vermutlich.
Und nun?
„Nähme ich Flügel der Morgenröte / und bliebe am äußerten Meer / so würde auch dort deine Hand mich führen / und deine Rechte mich halten. /Spräche ich: Finsternis möge mich decken / und Nacht statt ich Licht um mich sein -, / so wäre auch Finsternis nicht Finster bei dir, / und die Nacht leuchtete wie der Tag, Finsternis ist wie das Licht“ (Psalm 139, 10-14)
Kurz und gut: Gott hat mich eingeholt - nein, so wie in der Geschichte vom Hase und dem Igel ist Gott bereits da, wo ich jetzt bin und wartet auf mich, wie ich jetzt - ich betone: JETZT - bin.
Ich bin anders als noch vor zwei Jahren, mein Leben, meine Lebenssicht hat sich verändert. Ich kann den Faden nicht wieder aufnehmen, der mir vor zwei Jahren aus den Händen fiel. Bedeutungslos erscheint mir das, was noch vor knapp zwei Jahren mein christliches Leben ausgemacht hat. Bedeutungslos für heute. Es gibt nun also einen Bruch, eine deutliche Zäsur in meiner Glaubensbiographie.
Mein Psychoonkologe, dem ich viel verdanke, rät mir nicht viel. Aber zwei Dinge hat mir dringend empfohlen: Eine geistliche Heimat zu suchen und das Gebet wieder zu suchen.
Das Gebet habe ich gesucht und es war eines der ehrlichsten Gebete zu Gott dabei, das ich jemals in meinem Christenleben gesprochen habe. Ich habe den hohen Herrn nicht geschont und ihm meine Vorwürfe noch einmal ins Angesicht gedonnert. Dabei kam mir immer wieder das Gesicht Jesu in den Sinn. Ja, bei Jesus fühle ich mich gut, der kann aus eigener Erfahrung nachempfinden, was Leid und Zweifel sind. Auf Jesus kann ich nicht wütend sein.
Wenn in ihm die Liebe Gottes sichtbar ist, dann weiß ich, dass ich in den letzten Monaten zwei Illusionen aufgesessen bin: Die erste Illusion ist die, dass Gott mich nicht liebt. Doch in Jesus, dem Gekreuzigten, der mit dem Gethsemane-Zweifel (so lege ich das aus), hat Gott mir seine Liebe gegeben. Die zweite Illusion ist die, dass ich mit Gott ins Gericht gehen kann. Leider gibt es auf Leid keine wirklich befriedigende Antwort von Gott. Auch und erst recht nicht dann, wenn das Leid kein Ende nehmen will. Da nützt es nichts, wenn ich mich über Gott erhebe.
Jetzt bin ich also auf der Suche nach einer neuen geistlichen Heimat. Das ist der Rat, den mir mein Psychoonkologe gegeben hat. Christsein geht am besten in Gemeinschaft mit anderen Christen. Diese Lektion habe ich am Start meines Christenlebens noch bei Pastor Otto in der Versöhnungskirche gelernt. Aber da, wo ich vor zwei Jahren dabei war, da ist kein Zuhause mehr für mich. Daher muss ich suchen. Wo finde ich einen Platz für mich (und idealerweise für meine Angehörigen)?
Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n,
Weh dem, der keine Heimat hat!
(Friedrich Nietzsche)
Oder etwas heiterer:
It's a long way to Tipperary,
It's a long way to go,
It's a long way to Tipperary,
To the sweetest girl I know!
Goodbye Piccadilly! Farewell Leicester Square!
It's a long, long way to Tipperary,
But my heart's right there!
(Henry James Williams)
Es ist und bleibt ein langer Weg.