Freitag, 15. Mai 2020



Veränderungen

Eines ist mal klar: Ich hasse Veränderungen. Immer dieser Wechsel und je älter ich werde, desto wechselhafter erscheint mir die Welt. Wo sind all die schönen und vertrauten Dinge hin, mit denen ich groß geworden bin? Das Wählscheibentelefon, die Telefonzelle, die Pfennigstücke, die Schallplatten.... Davon ist heute nicht mehr viel übrig. Wo sind all die vertrauten Menschen hin, mit denen ich groß geworden bin? Viele sind mittlerweile verstorben, viele sind nun sehr alt und sehr krank - und zu noch mehr besteht heute kein Kontakt mehr. Wo ist mein unmittelbares Erleben hin? Das Rauschen einer Kastanie im Frühlingswind, der Geruch von Vanilleeis aus der Waffel, das Kommen und Gehen der Schiffe im Hamburger Hafen, das ist heute definitiv anders. Wo sind meine Dialoge hin? Glaubt es oder nicht, doch stand ich im inneren Dialog mit Goethe, Schiller, Nietzsche, Voltaire, immer wenn ich ihrer Bücher öffnete und darin las.

Das Leben ist Veränderung, dynamisch, unvorhersehbar. In der Rückschau erkennt man erst die Tragweite und das Ausmaß dieser Veränderungen.

Das ist nun keine Nostalgie, denn die Schattenseiten meiner Vergangenheit sind mir bewusst. Das fängt beim Hundehaufen auf dem Gehweg (früher sehr häufig, heute recht selten) an und hört bei gewissen Erlebnissen nicht auf, die ich hier nicht ausbreiten möchte.

Das Leben ist Veränderung, die ich erlebe und wozu "ja" zu sagen mir bislang schwer gefallen ist. Bislang.

Bin ich heute noch derselbe wie früher? 

Veränderung heißt auch, Abschied zu nehmen vor Vorstellungen und Einstellungen.


Ein Bild, das meine Welt auf den Kopf stellte

Vor einiger Zeit habe ich in einer Fernsehdokumentation ein Bild gesehen, das ich zwar schon oft betrachtet habe, das mir aber erst neulich in meinem inneren Erleben richtig bewusst wurde. Zu sehen ist darauf Adolf Hitler, der gerade seinen Arm hebt. Neben ihm auf der Tribüne steht der alte königlich preußische Generalfeldmarschall August von Mackensen, ein Feldherr des Ersten Weltkriegs. 

Ich bin durch meine Großmutter, die Jahrgang 1906 war, von Kindheit an preußisch geprägt worden. Die Geschichte des alten Preußen hatte mich da immer fasziniert. Die Könige, Feldherren, Soldaten, Politiker, später auch die Künstler und die Geschäftsleute übten eine geradezu magische Anziehungskraft auf mich aus. Das war für mich der Inbegriff eines Staates, den ich wollte. Der Höhepunkt des preußischen Staates war für mich die Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871. Theodor Fontane sah damals bereits den Abstieg Preußens, für mich fing es es da erst richtig an und meine grenzenlose Bewunderung für das alte Preußen übertrug ich 1:1 auf das Kaiserreich, selbst dasjenige von Kaiser Wilhelm II.. Konservativ, christlich, soldatisch, geordnet, diszipliniert und aus wenig Mitteln viel Ertrag machen.

Das Mackensen-Hitler-Bild aber zerstörte nun mein Preußenbild. Mackensen hat sich stets als aufrechter Preuße gesehen, kaisertreu und tief schwarz-weiß. Doch hat all sein heroisches Preußentum ihn nicht davon abgehalten, mit den Nationalsozialisten gemeinsame Sache zu machen. Vielmehr erschien ihm seine preußische Gesinnung als Auftrag, sich Adolf Hitler gefügig zu machen. Dabei war Mackensen nur einer unter vielen kaisertreuen Preußen, die sich dem Nationalsozialisten andienten und dabei schuldig wurden. 

Das hat Preußen, jedenfalls das Tschingderassabummpreußen, das ich als Kind und Jugendlicher so sehr verehrt hatte, durch und durch korrumpiert. Der moralische Ruin Preußens wurde mir bei diesem Bild deutlich. Damit nahm ich Abschied von diesem Bild, Abschied vom alten Preußen meiner Großmutter, Abschied von den Pickelhaubenträgern, deren Standbilder noch heute unsere Städte zieren. 


Achtsamkeit

Das ist irgendsoein Begriff, der als neues Modewort gilt: Achtsamkeit. Mir begegnete er das erste Mal, als ich auf die sogenannten MBSR-Kurse stieß. MBSR ist die Abkürzung für "Mindfulness-based stress reduction", was man mit Achtsamkeits-basierte Stressreduzierung übersetzen kann. Ich weiß nicht mehr, wie es im einzelnen dazu kam, aber seitdem ich vor zwei Jahren durch Gespräche mit Arbeitskollegen auf das Thema Buddhismus kam, hatte mich wenigstens die Meditation nicht mehr losgelassen. Bei der Recherche im Laufe der letzten 18 Monate kam ich dann auf einen MSBR-Kurs, zu dem ich mich dann angemeldet habe.

Das waren acht Abende und ein Sonnabendtermin von Januar bis März. Leider konnte ich nicht an allen Abenden teilnehmen. Von den acht Abenden habe ich die ersten drei auslassen müssen, weil ich da im Krankenhaus lag. Der Termin auf dem Sonnabend und der letzte Kursabend fielen wegen der Corona-Krise aus. Es blieben mir also "nur" vier Abende.

Was habe ich da kennengelernt? Ganz wichtig: Die Wahrnehmung der Gegenwart. Das Leben in der Gegenwart. Wir sind oft abgelenkt, denken an die Dinge von Morgen oder den Ärger von gestern und nehmen nicht mehr wahr, dass wir genau hier und genau jetzt leben. Um dies "achtsam", d.h. präsent und bewusst wahrzunehmen, dafür gibt es MBSR-Übungen. Diese Übungen entstammen dem buddhistischen Kontext aus Zen und Vipassana, integrieren aber auch einzelne Übungen aus dem Hatha-Yoga. Im Grunde kreisen die Übungen immer um die Wahrnehmung des eigenen Atems, der uns immer wieder ins Hier und Jetzt zurückführt.

Im Zusammenhang mit dem MBSR und in der Folge dieses Kurses habe ich für mich beschlossen, insbesondere den meditativen Teil auszubauen und fortzusetzen, den ich als besonders wirkungsvoll gehalten habe. Dazu beschäftige ich mich mit einigen zeitgenössischen Büchern über Meditation, in denen ich auch Teile der MBSR-Übungen wiedererkenne. Natürlich gehört Jon Kabat-Zinns Werk dazu, der MBSR "erfunden" hat. Dann aber fand ich auch Pema Chödrön, eine Amerikanerin, die buddhistische Nonne geworden ist und Yongey Mingyur Rinpoche, von deren Ausführungen zur Meditation ich profitieren konnte.

Wie meditiere ich eigentlich? Meistens morgens etwa 20 Minuten, wobei ich mich alle 5 Minuten durch einen Gong an die Zeit erinnern lasse. Ich sitze dazu auf einem Zafu im burmesischen Sitz, zähle meine Atemzüge oder mache mir die Gegenwart meines Atmens bewusst. Ich mache also geschlagene 20 Minuten lang nichts. Nichts. Jedenfalls nichts Produktives. Dabei kommen jede Menge Gedanken auf, denen ich mal nachspüre, mal aber auch die Tür zuschlage. Immer wieder komme ich dann zum Atem zurück, dem eigentlich meine Achtsamkeit gelten sollte. Aber ich lerne dabei, dieses Zurückführen auf den Atem "sanft" zu machen, keineswegs mit Schuldgefühlen wegen der Unaufmerksamkeit. Je mehr ich nun meditiere, desto mehr kann ich die auftauchenden Gedanken kommen sehen, sie kurz verweilen lassen und dann wieder - wie durchziehende Wolken - beim Entschwinden beobachten. Geräusche, Empfindungen, Ablenkungen nehme ich während der Meditation als gegeben wahr, beurteile aber nicht, ob sie stören oder schön sind. Sie sind einfach "da". So übe ich während der Meditation außerdem, ganz bewusst auf Bewertungen wie "passt" oder "passt nicht", auf das Urteilen, Beurteilen und Verurteilen von Phänomenen zu verzichten. Und mein Geist wird klarer.

Nach 20 Minuten ist dann die Sitzung vorbei. Erlebe ich "Frieden"? Eigentlich nicht. Statt dessen erlebe ich, achtsam auf das Hier und das Jetzt zu sein. Alles andere zählt nicht. "Frieden" stellt sich später ein. 

Mein Geist ist wie das Wasser in einem kleinen Fluss. Das Wasser ist von seiner Natur her klar. Durch Strömungen, Felsen, Verwirbelungen und Wind können andere Dinge ins Wasser fallen oder vom Grund des Flusses aufgewirbelt werden und wir sehen das Wasser als trüb an. Dabei ist es nicht von sich aus trüb, sondern wegen der äußeren Einflüsse. Die Natur des Wassers ist klar. So wie die Natur des Wassers Klarheit ist, so will ich auch, dass mein Geist klarer wird. Dabei hilft es, wenn ich meditiere.

So erlebe ich es, dass ich loslassen kann: Die Bindung an die Vergangenheit, vor allem deren nostalgische Verklärung. Aber auch die Sorge vor der Zukunft, vor dem, was kommt und droht. Hier und Jetzt, darum geht es. Hier und Jetzt, da liegt der Schlüssel zum Glück.

Das Gewesene ist nur ein Schatten.
Das Kommende ist nur ein Schatten.
Das Hier und das Jetzt aber leuchten hell und klar.

Der Zafu (Meditationskissen)



Ein alter Schulfreund

Letztes Jahr im November hatte ich Abiturstreffen. Das findet alle fünf Jahre statt, immer im November, und es kommen von den rund 120 Abiturient*innen des Jahrgangs 1984 des Elise-Averdieck-Gymnasiums immer so an die 40-50 Ehemalige zusammen. 

Nun ergab es sich, dass ich einen alten Schulfreund dort zum Gespräch traf. Er ist Jurist geworden und im Gegensatz zu mir hat er es auch als Firmenjurist in Hamburg zu etwas gebracht. Allerdings ist er spät Vater geworden. Gemeinsam sind wir vor über 35 Jahren in die Junge Union eingetreten, gemeinsam hielten wir damals in der Schule die Fahne des bürgerlichen politischen Lagers hoch, ehe sich nach dem Abitur unsere Wege trennten.

Ich hatte also ein Bild von ihm vor Augen.

Dann erzählte er mir, dass ihm nun andere Dinge wichtig geworden wären. Er könne sich vorstellen, seinen Karrierejob zu schmeißen und sich seiner wahren Leidenschaft ganz und gar zu widmen. Ich war erstaunt. Denn er hat Yoga für sich entdeckt und sich neben seinem Beruf zum Yoga-Lehrer ausbilden lassen, gibt auch bereits einzelne Kurse. Die Beschäftigung mit Yoga prägt nun auch sein Weltbild, seine Einstellungen und auch sein Verhalten. Einiges hörte sich für mich nach New-Age an, anderes wiederum faszinierte mich.

Mir imponierte, dass er bereit war, aus seiner Leidenschaft etwas zu machen, das ihn ganz und gar ausfüllt.

Mir wurde bewusst, dass das auch eine Anfrage an mich ist. 

Mir wurde auch bewusst, wie sehr sich ein Mensch, mit dem ich vor 35 viel geteilt und verbunden hatte, mittlerweile verändert hat. Von dem JU-Streiter von einst war nichts mehr übrig geblieben als Erinnerung. Was ist von mir von damals geblieben?

Ich gebe zu, dass ich vieles hinterfrage, was mein Leben bislang geprägt hat. Vieles davon hat sich als nicht mehr passend erwiesen. Warum schleppe ich es noch mit mir herum? Wo kann ich etwas verändern? Wo heißt es, Abschied zu nehmen von politischen Einstellungen, religiösen Überzeugungen? 

Jedenfalls bin auch ich nicht mehr derselbe, der ich vor Jahren gewesen bin. Das ist mir nun klar geworden. Was für den einen banal ist, ist für mich eine Revolution. 

Panta rhei heißt es beim Philosophen Heraklit, alles fließt. Der Fluss fließt, bleibt in seiner Erscheinung meistens immer gleich, verändert sich aber ständig. 

Panta rhei.