Mittwoch, 18. November 2020

 

Der Sound des Herbstes und die Onkologie

Heute morgen ist es passiert: Früh um viertel vor acht schmissen die Gartenarbeiter in unserer Wohnanlage den Sound des Herbstes an. So kamen wir alle hier in den Genuss von etwa drei Laubbläsern und einer Gartenmaschine, die mit gewaltigem Sog die Blätterdecke auf den Rasenflächen in ihr Inneres beförderte. Der Erfolg dieser Arbeit lag wohl in Säcken voller Laub, die auf den Komposten auf ihr Schicksal warten werden. Was wir Anwohner alle davon hatten war sechs Stunden Lärm in durchaus erheblicher Intensität. Hinzu kamen noch Baumarbeiten, die mit Motorsägen erledigt werden mussten.

Mit anderen Worten: Es wurde in unserer Wohnanlage laut wie auf einem Flughafen. Der Sound des Herbstes.

Seit März bin ich im Homeoffice, weshalb ich die volle Ladung Herbstsound abbekam. Klar, dass ich dann die Fenster geschlossen habe. Mir war immer klar, dass dieser Tag kommen würde, an dem mein Vermieter die Gärtner zu dem Konzert bestellen würde.

Im Nachhinein aber war ich erstaunt, wie meine Reaktion auf den Sound ausfiel. Ich habe ihn voll und ganz akzeptiert und weitgehend darauf verzichtet, ihn zu beurteilen ob angenehm oder unangenehm. Dass der Sound mit seinem Getöse da war, durfte sein. So konnte ich ihn bewusst wahrnehmen ohne mich daran allzusehr zu stören und ihn dann wieder aus meinem Bewusstsein herauslassen. So kann ich sagen, dass ich daher keine Minute mich über diesen Sound geärgert habe, was mir früher nicht gelungen ist.

Wenn wir das, was wir als unangenehm empfinden und beurteilen, akzeptieren und es anschließend wieder loslassen, bleibt für Ärger kein Raum. Auf Dinge wie diesen Sound des Herbstes, Regenwetter, Corona-Folgen usw. haben wir so gut wie keinen Einfluss. Diese Dinge ereignen sich, ob wir ihnen zustimmen oder nicht. Wir können aber beeinflussen, wie wir damit umgehen. Das ist die Freiheit, die wir in jedem Fall haben. Und: Was nützt uns der Ärger und der Kummer, den uns Dinge bereiten, auf die wir keinen Einfluss haben?

Allzuoft vergleichen wir unsere jetzige Situation mit einem Idealzustand und stellen fest, dass es eine Lücke gibt. "Ach, wenn doch bald Stille wäre." "Ach, gäbe es doch keine Pandemie." Dieser Vergleich des Istzustandes mit dem Idealzustand führt bei uns zu einem Leiden, das zu Unzufriedenheit, Kummer, Frustration und vielen anderen ungesunden Zuständen führt. Ist es uns das wert? Wollen wir die Lebenszeit mit diesen Dingen verbringen?

Etwas in mir sagt mir: Ich möchte die Freiheit meines Geistes in dieser Hinsicht bewahren, besser zurückgewinnen. Gelassen läuft das Leben einfach besser.

So: In dieser Woche erwarte ich einen Anruf meiner Onkologin. Gestern war ich bei ihr zum Bluttest. Diese Werte sind in Ordnung. Aber ob die Proteinwerte auch in Ordnung sind, konnte sie mir noch nicht sagen, das stellt sich anhand des Testes erst nach ein paar Tagen heraus. Wenn sich zu viele "Leichtketten" (unvollständige Eiweißverbindungen im Blut, das Symptom des Multiplen Myeloms) in meinem Blut gefunden haben, dann will sie mich morgen oder übermorgen anrufen. Das hat durchaus etwas von Spannung. Leider habe ich aktuell ein paar hartnäckige Schmerzen im Rücken. Ob dieser orthopädisch oder onkologisch zu behandeln sind, das ist die Frage.

Und dann soll mein Geist frei sein und bereit, auch unangenehme Botschaften aufzunehmen, den Sachverhalt als solchen akzeptieren und damit zu leben. Dass das ein Prozess ist, das ist mir klar.

Aber ich bin auf dem Weg.