Dienstag, 1. Juni 2021

 

Mein Glaube und Krebs

(Es kommen auch drastische Formulierungen vor.)

Ja, es ist so. Mein (christlicher) Glaube ist durch die Krebserkrankung ziemlich unter die Räder gekommen. In den letzten eineinhalb Jahren ist da einiges auseinandergelaufen. Ich musste ja einiges durchmachen: 2020 begann für mich mit vier Wochen Krankenhaus, weil ich Gürtelrose mit anschließender Sepsis (Blutvergiftung) bekam. Beides sind Folgeerkrankungen meines defekten Immunsystems. Und dass das Immunsystem defekt ist, habe ich dem Multiplen Myelom (MM) zu verdanken.

Diese Krebserkrankung ist nun einmal heimtückisch. Sie ramponiert mich auch, wenn sie gerade nicht aktiv ist. Und nun ist sie halt wieder da und bedroht mich an allen möglichen Ecken und Enden meines Lebens. Degenerierte Halswirbel, ein miserables Blutbild, zu viele entartete Proteinketten... Kein Zuckerschlecken.

In der Zeit nach der ganz heißen Phase 2017 verfiel unter dem Eindruck der MM-Geschehnisse mein Glaube zusehends. Die Entfremdung von meiner damaligen Gemeinde wuchs, auch waren nicht alle Erwartungen, die in mir geweckt worden waren, erfüllt worden. Als es im Sommer 2017 ganz besonders dringend wurde (ich musste zur Stammzellentransplantation und Hochdosistherapie ins Krankenhaus), fiel die fest zugesagte tatkräftige Hilfe von Menschen aus der Gemeinde einfach aus.  Ansonsten kein Besuch, keine spürbare Anteilnahme - "kein Nix, kein Garnix" wie meine Mutter zu sagen pflegte.

Das hat schon Eindruck auf mich gemacht. Keinen guten.

2018 habe ich an einem Seminar von "Christen im Gesundheitswesen" teilgenommen. Das war eine gute Veranstaltung, in der wir an einem Abend mit anderen Menschen beten durften. Mein Gebetsanliegen seinerzeit hat mich überrascht: "Ich will Gott vergeben". Das ist natürlich theologisch nicht korrekt, für mich war es aber wichtig, das so zu formulieren. Nach dem Gebet war ich immer noch überrascht - aber die Zeit danach erwies, dass ich "Gott" nicht vergeben hatte.

Statt dessen hatte ich einen Schuldigen gefunden für die Krankheit meines Lebens.

Und dieser Schuldige ist Gott.

In seiner Allmacht und Weisheit, grenzenloser Güte und Barmherzigkeit, Allwissenheit und sonstigen Attributen hatte Er diese Krankheit zugelassen. Nicht verhindert. Mich damit geschlagen. Die Zellteilungsanmomalie, die wir "Krebs" nennen, in seine "sehr gute" Schöpfung  hineingelassen, vermutlich weil er gepennt hat oder anderweitig beschäftigt war. Oder Er ist ein Sadist, der sich an meinem und anderer Menschen Leiden erfreut. Ad maiorem Dei gloriam.

Klar: Jetzt konnte ich Gott in seinen riesigen Hintern treten. Der Schuldige war ausgemacht. Und wie konnte ich Gott am besten für seine Untaten bestrafen? Durch Aufgabe des Glaubens. "Gottes beste Entschuldigung für das Leid ist seine Nichtexistenz." Diese Straße führte direkt in den Atheismus. Und je länger ich nachdachte, desto plausibler wurde es für mich: Kein Gott, keine Religion, einfaches Eingestehen, dass in dieser Welt eben nicht alles perfekt ist.

Und mein Tod? Akzeptiert.

Kein Weiterleben in der Ewigkeit? Ist eben so. Wenn es aus ist, ist es aus.

Kratzt mich alles nicht.

Warum befand ich mich also auf dem Weg in den Atheismus? Weil ich diesem Gott eins auswischen wollte.

Das habe ich auch veröffentlicht. 

Von einigen Christen bekam ich Gedanken auf den Weg.

Einer schrieb, dass mit dem Heil nicht körperliche Heilung verknüpft ist und dass mein Gottesbild falsch wäre. Sorry, das war und ist in der Situation nicht hilfreich. Einerseits hatte ich infolge der Krankheit durchaus gute Gründe, an der Güte und Liebe Gottes zu zweifeln. Zweitens hatte ich überhaupt kein Gottesbild mehr. Entweder ist Gott ein Sadist (Provokation) oder - wahrscheinlicher - es gibt keinen Gott (Behauptung).

Eine andere schrieb einen wilden Text. Darin enthalten waren diverse Bibelverse und die Aufforderung, ich möge mich doch jetzt gefälligst und sofort der "Bibel" unterordnen. Meine Klage wäre nicht biblisch, offene Rebellion, meine Ausführungen über (den für mich nicht existierenden) Gott schlimm. Unterordnen, aber schnell. Ich quittierte diese Ausführungen mit der Anmerkung "Jeder Satz eine christliche Keule", was die Verfasserin dazu veranlasste, den Kontakt mit mir zu beenden mit den Sätzen:

Matthäus 10:9. Die Jünger schütteln sich die Unreinheit der Menschen, die nicht hören wollen, von den Füßen. Jesus benutzt hier ein Bild, die Verwendern des Zitats nimmt das ganz wörtlich: Aus ihrer Sicht bin ich Dreck, mit dem sie sich nicht mehr befassen möchte.

"Und tschüß, Stefan Wartisch. Manchmal muss man den Staub von seinen Füßen schütteln. Tu ich gerade. Mach dir keine Mühe, zu antworten. Ich bin raus."

Zum Glück waren diese beiden Beispiele absolute Ausnahmen: Einmal nicht hilfreich, einmal aggressiv. Schön waren für mich die vielen Zuschriften, die mir trotz der drastischen Worte nicht die Freundschaft aufkündigten. Im Gegenteil: Sie nahmen wirklich Anteil an meiner Situation, was sie zum Gebet veranlasste. Jedenfalls wurde mir das in vielen Zusendungen zugesichert. Es gab auch hilfreiche Tipps und Verständnis für meine Klage. Ein christlicher Freund schrieb mir, dass er "immer" für mich da ist, wenn ich ihn brauche. Manche schrieben mir auch, dass sie sich einfach eine Umarmung für mich wünschen, eine Umarmung von Gott.

Es war etwas Neues: Ich erlebte mit einem Male wieder Gemeinschaft. In dem Loch, in dem ich saß, war wieder etwas zu spüren davon, mit Menschen zu sein, die ermutigen, stärken, nicht aufgeben, nicht anklagen. Nicht anklagen. Sie gingen mit mir nicht den Weg, auf schon die Freund Hiobs hereingefallen sind, sondern den Weg des Mitgefühls.

Als ich vor ein paar Tagen meine Port- OP in der Schön-Klinik Eilbek hatte, fiel mich auf dem Weg dorthin etwas ein: "Wäre schön, jetzt ein Gegenüber zu haben, ein DU". Na klar, es gibt Menschen, die mich auch in die OP hätten begleiten können: Meine Frau, mein Bruder und viele liebe Freunde, Christen wie Nichtchristen. Das war aber nicht das, was mir fehlte. Das DU, das mir fehlte, ist das DU, das "immer" da ist. Ansprechbar, zuhörend, antwortend, dialogisch. Das DU, das Martin Buber so schön beschrieben hat.

Das DU ist Gott. Zum ersten Mal seit langer Zeit war da das Bedürfnis da, mit dem DU wieder zu leben.

Die buddhistische Phiosophie lehrt, falsche Vorstellungen loszulassen, sich von Täuschungen befreien und offen zu werden. Komischerweise passt dies sehr gut zu meiner Erfahrung, dass dieses Bedürfnis nach dem DU stärker wurde als die Ablehnung des Gottes, den ich in meinem Bedürfnis nach einem Sündenbock für mein Lebensunglück abgeschafft hatte - ohne ihn je ganz loslassen zu können.

In einem Gespräch, das ich gestern mit einem wirklich sehr guten Freund über das Thema geführt hatte (wir sprachen fast vier Stunden sehr tief miteinander) ergab für mich die Erkenntnis, dass ich in einer Grube sitze und mir durch andere Menschen Rettungsseile zugeworfen werden. Ich darf eines oder mehrere nehmen und mich herausziehen oder herausziehen lassen, um diesem DU wieder zu begegnen.

Ebenso wichtig wurde für mich der Gedanke, dass dieses DU auch ein gewaltiges Geheimnis ist, das jenseits unserer Vorstellungen und Logik ist. In der Ostkirche vermittelt sich das DU unter anderen durch die Ikonen, in denen wir das Du durch die Darstellung erfahren - und das DU in der nicht fassbaren Welt uns sieht. Die Bibel fasst das in Johhannes 1:18 in den Vers "Niemand hat Gott ("DU") je gesehen (Geheimnis); der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist (Jesus, DU), der hat es verkündigt." 

Dieser Gedanke lässt mich nun nicht mehr los. "DU" finden und suchen. Keine Anklage gegen DU, kein Sündenbock mehr für mein Leben. Einfach das "DU".

Und was ist mit den Erklärungen? Was ist mit meinen Anklagen? Was ist mit dem "Gott - WARUM die Krankheit?" 

Gott bleibt ein Geheimnis, mit dem der Glaubende leben muss, wie es der katholische Theologie Karl Rahner formulierte. Es bleibt aber das Vertrauen auf Jesus Christus, in dem die Liebe dieses "DU" zu seiner Schöpfung und zu den Menschen Gestalt geworden ist. Ist also der Weg Gottes mit mir, so es Gott gibt, ein Weg der Liebe? Vielleicht. Wahrscheinlich. Kann schon sein. Oder Ja.

Ich hatte an anderer Stelle bereits geschrieben, dass die Tür zum Glauben von mir nicht ganz zugeschlagen ist. Einen spaltweit war sie offen. Und es scheint, dass sich da jemand hineingezwängt hat. 

Daher bleibe ich "dran".