Reflexionen
Ich teile diesen Blogpost in zwei Teile: Zuerst geht es um die Krankheit, dann um das Thema Glauben.
Also Krankheit.
Seit Mitte Mai bin ich in meiner Therapie. Ich erhalte einen Antikörper und eine Chemo, das erste per Spritze in den Bauch, das zweite per Infusion. Wegen meiner grotesk zerstochenen Unterarme (nach drei Jahren Infusionen kein Wunder) habe ich mir Ende Mai zusätzlich einen Port legen lassen, durch den jetzt die Infusionen recht komplikationsfrei laufen. Das sind jetzt etwas mehr als drei Monate.
Die ersten Tage waren beschwerlich, ich litt sehr unter den Folgen der Behandlung. Dann traten auch noch Komplikationen mit meinen Blutwerten auf, sodass ich eine Blutkonserve erhalten musste, die aus dem Serum für Blutfarbstoff bestand. Danach ging es mir zwei Tage so richtig schlecht, zumal ich auch mir auch noch eine zusätzliche Spritze für die Gewinnung von Leukozyten setzen musste. Das war Anfang Juni - und ich hing buchstäblich in den Seilen.
Aber danach ging es mir immer besser. Es gab sogar Tage, da musste ich mich daran erinnern, dass ich gerade wegen einer Sch...krankheit in Behandlung. Die Blutwerte haben sich mittlerweile wieder (auf niedrigem Niveau) normalisiert, ich kann mittlerweile sogar in moderater Weise wieder Sport treiben, ohne umzukippen.
Nur an den Therapietagen geht es mir nicht so gut. Das betrifft aber nur eine tiefe Müdigkeit, die ich nach den Infusionen habe. In der Zwischenzeit habe ich sogar erfahren, woran das liegt. Das ist ein Medikament namens Tavegil, das gegen Allergien wirken soll. Und wie viele Histamine wirkt es ausgesprochen müdigkeitsfördernd. Zurzeit ist mittwochs immer Therapietag. Im Laufe des Mittags stellt sich dann die Müdigkeit hammerartig ein und zieht sich dann bis zum Abend hin. Am Abend übernimmt dann das ebenfalls eingenommene Cortison das Kommando und sorgt für die Gegenreaktion: Dann werde ich sehr wach. Die Folge sind dann - trotz Müdigkeit und Erschöpfung - Schlafstörungen. Aber ich habe mich an dieses Ab und Auf schon gewöhnt und wäre wohl überrascht, wenn es anders wäre.
Ich betone aber nochmals: Ansonsten habe ich viele gute Tage. Wenn ich das mit den Beschwernissen in den ersten Monaten der letzten Therapie vor bald viereinhalb Jahren vergleiche, ist das ein "Klacks mit der Wichsbürste", wie man in Norddeutschland sagt. Es gibt da freilich etwas, das mich sehr beunruhigt, aber das schreibe ich vielleicht ein andermal.
Neulich bat mich meine Onkologin in ihre Sprechstunde und präsentierte mir die Ergebnisse der Therapie bis dahin. Der Befund war erfreulich: Das Myelom ist deutlich auf dem Rückzug, die Proteinleichtketten normalisieren sich wieder, das knochenzerstörende Werk ist deutlich gestoppt und auch die Nierenwerte sind in Ordnung. Kurz und gut: Die Therapie hat angeschlagen bei guter Verträglichkeit. Das ist doch was Erfreuliches.
Leider dämmert mir bei solchen Terminen, dass ich bis an mein Lebensende mit dieser Krankheit werde kämpfen müssen. Und das nicht nur in den trüben Monaten, in denen das Myelom zuschlägt wie jetzt. sondern auch dann, wenn es sich nicht zeigt. Dann kommen andere Begleiterscheinungen der Krankheit zum Tragen: Infektanfälligkeit, Fatigue, psychische Störungen, vielleicht auch Polyneuropathien. Aber ich darf weiter leben. Auch das ist doch bei allem Mist etwas Erfreuliches.
In den letzten Jahren hat mir mein Psychoonkologe Dr. Schulz-Kindermann gute Dienste geleistet. In vielen Gesprächen hat er mich immer wieder aufgebaut und mir geholfen, mit den Folgen der Krankheit und auch mit ihren Begleitumständen klarzukommen. Ohne ihn wäre es oft ein Gang barfuß durch die Hölle gewesen. Mit seinem Rüstzeug konnte ich in die Hölle oft in Kampfstiefeln durchschreiten. Leider wird er nun die Betreuung beenden, er geht in den wohlverdienten Ruhestand. Zwar bleibe ich Patient in seiner UKE-Abteilung, werde aber einen anderen Betreuer erhalten - und auch das erst nach einer unbestimmten Übergangszeit. Sehr schade, auch wenn ich das bereits vermutet hatte. Dr. Schulz-Kindermann ist der führende Psychoonkologe in Deutschland und ich bin sehr, sehr, sehr dankbar, bei ihm in Betreuung gewesen zu sein.
Anfang/Mitte September werde ich dann mit meiner Onkologin besprechen, wie es weitergeht. Im Raum stehen im Großen und Ganzen zwei Optionen: Entweder endet mit der Therapie auch die unmittelbare Behandlung und wir gehen in eine Erhaltungstherapie über - oder ich muss noch einmal eine Hochdosistherapie mit Stammzelltransplantation über mich ergehen lassen. Dazu gibt es eine weitere Knochenmarkpunktion und eine Zweitbegutachtung durch die Onkologisch-Hämatologische Abteilung des UKE, die - wie es sich so fügt - eine der führenden Einrichtungen auf dem Gebiet der Myelomforschung ist. Ich darf also gespannt sein.
La luta continua. Venceremos.
Dann Glaube.
Die Krankheit hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Und nach und nach stürzte auch mein Glaube in sich zusammen. Manchmal explodierte er, die meiste Zeit aber implodierte er. Ich konnte auf die rauchenden Trümmer meines christlichen Bekenntnisses blicken. Nur wenig bis gar nichts war davon übriggeblieben.
Zuweilen suchte ich mich in Vordergründigem zu orientieren. Dann gab ich zwar Christliches von mir, das aber war nur Oberfläche. Frommes Gelaber, das ich in den letzten 20 Jahren auswendig gelernt hatte. Christliche Floskeln halt. Tatsächlich war da nicht mehr viel.
Ich hatte ja schon erzählt von meinem Erlebnis im Mai/Juni diesen Jahres, als ich das Bedürfnis nach dem DU hatte. Das hat sich bis heute nicht gelegt. Und so krabbele ich mühsam zurück in den Glauben an Jesus Christus. Es ist schwieriger, als ich dachte.
Im Internet habe ich eine Initative gefunden, in der ehemals evangelikale Christen sich artikulieren und vernetzen. Sie nennen sich #deconstruct, #exvangelical oder #unfollow. Auch bei ihnen hat in Krisensituationen der christliche Glaube vor allem in seinen evangelikalen Spielarten keine Stütze mehr geboten. Das Infragestellen von Glaubenssätzen ist im evangelikalen Milieu nicht sonderlich beliebt. Selbst dann nicht, wenn diese Fragen von Menschen gestellt werden, die sich in existenziellen Krisen befinden und zweifeln. Die meisten Betroffenen wenden sich dann sukzessive vom Glauben ab und nur wenigen gelingt es, sich dann in die christliche Welt wiedereinzufinden. Viele werden Atheisten oder Agnostiker. Das kann ich gut nachvollziehen, wäre ich doch fast auch in diese Richtung gegangen. Noch heute habe ich große Sympathien für Atheismus und Agnostiszismus, kann aber deren gedankliche Wege nicht oder besser nicht mehr mitgehen.
So definiere ich meinen christlichen Standpunkt sukzessive neu. Da darf ich auch gerne etwas ausprobieren.
Mir sagt die Frömmigkeit im orthodoxen Bereich sehr zu: Der Ikonenverehrung, dem Herzensgebet, dem Tschotki und dem herrlichen Gesang der Liturgie. Aber als ich mich der dahinter stehenden Instution näherte, stieß mich der antimodernistische Kurs der meisten verfassten orthodoxen Kirchen ab. Zudem habe ich mittlerweile eine Aversion gegen Dogmen, die ich unhinterfragt verbindlich zu glauben habe.
Aber auch Phänomene der katholischen Kirche finde ich spannend. So entdecke ich die Lectio Divina und das kontemplative Gebet. Aber katholisch werden? Warum denn das. Auch da begegne ich einer dogmatischen Bindung und einer fragwürdig gewordenen Hierarchie.
Zurzeit beschäftige ich mich mit den Praktiken des Zen-Buddhismus und wie sich das mit dem christlichen Glauben verträgt. Gut möglich, dass ich das auch verwerfe, aber hier können für mich Brücken geschlagen werden zwischen der Stille der Kontemplation und der Herausforderung des Evangeliums. Ich bin ein Mystiker.
Gleichzeitig wende ich mich der historisch-kritischen Methodik im Bibelverständnis zu. Ich kann und will nicht mehr den Verstand ausschalten, wenn ich mich mit dem zentralen Text des christlichen Glaubens beschäftige. Gott hat mir den Verstand gegeben, damit ich ihn nutze. Warum sollte ich da mit einem eindimensionalen Verständnis an die Texte herangehen? Viele der Dogmen, die ich in den letzten 20 Jahren gelernt habe, sind fragwürdig. Und ich lebe in einer rational geprägten Welt.
Das könnte ich jetzt noch fortsetzen, würde aber den Rahmen sprengen. Ich bin - wie gesagt und betont - auf dem Weg zurück. Wo ich im christlichen Milieu lande, weiß ich noch nicht. Es wird aber definitiv anders sein als meine Zeit früher in der Elim-Kirche. Ganz anders. Fest steht, dass ich für meine Person mit dem evangelikalen Christsein, wie es in Pfingstgemeinden, freien Gemeinden oder ähnlich orientierten Gemeinschaften nicht mehr viel anfangen kann. Das ändert freilich nichts daran, dass ich für viele Menschen, die ich dort kennengelernt habe tiefen Respekt empfinde für ihren Glauben. Aber ich gehe da nicht mehr mit.
Mein Weg ist ein anderer.
Wenn einer es heute fertig bringt,
mit diesem unbegreiflichen, schweigenden Gott zu leben,
den Mut immer wieder neu findet, ihn anzureden,
in seine Finsternis glaubend, vertrauend und gelassen hineinzureden,
obwohl scheinbar keine Antwort kommt als das hohle Echo der eigenen Stimme,
wenn einer immer wieder den Ausgang seines Daseins frei räumt
in die Unbegreiflichkeit Gottes hinein,
obwohl er immer wieder zugeschüttet zu werden scheint
durch die unmittelbar erfahrbare Wirklichkeit der Welt,
ihrer aktiv zu meisternden Aufgabe und Not
und ihrer immer noch sich weitenden Schönheit und Herrlichkeit,
wenn er dies fertig bringt ohne die Stütze der „öffentlichen Meinung“ und Sitte,
wenn er diese Aufgabe als Verantwortung seines Lebens
in immer erneuter Tat annimmt
und nicht als gelegentlich religiöse Anwandlung,
dann ist er heute ein Frommer, ein Christ.....
- aus: Karl Rahner, Frömmigkeit früher und heute (1965)