Mittwoch, 1. Dezember 2021

 


Ergebnisse einer Dekonstruktion


Ich bin jetzt nach fast drei Wochen aus dem Krankenhaus entlassen und wieder im Hause. Das war wirklich keine schöne Zeit. Diesmal gab es viel Übelkeit, einen ziemlich unleidlichen Zimmergenossen die meisten Tage (und Nächte), Ekelgefühle en masse und zum unguten Schluss noch ein hartnäckiges Fieber, das meine Entlassung deutlich verzögerte. Das meiste ertrug ich durch Gleichmut und Humor, das exzellente Pflegepersonal und ein guter Psychoonkologe taten ihr Übriges, dass ich meinen Verstand nicht verlor. In dieser Zeit reifte mein Entschluss, an diesem sich allmählich leerenden Ort eines Blogs (den kaum noch jemand liest) kurz zu notieren, was ich christlich noch glaube - und was nicht. Das sind freilich keine Dogmen, keine Lehre und sicherlich kann so ziemlich jeder Bibelfundi mit einer Reihe von Zitaten meine Glaubenssätze aushebeln. Aber das ist das, was nach der Dekonstruktion meines christlichen Weltbilds in den letzten fünf Jahren übriggeblieben ist bzw. sich neu gefunden hat.

Was ist Dekonstruktion? Den Begriff habe ich erst kürzlich gefunden. Er beschreibt den Prozess, in welchem Menschen, die vormals geglaubt haben, ihre tradierten, erlernten oder angeeigneten christlichen Überzeugungen in Frage stellen, konfrontieren und abbauen. Dies betrifft in der Regel Menschen aus konservativ-christlicher Sozialisation, die in Deutschland in den verschiedenen Freikirchen aller Denominationen, Teilen der Landeskirchen (hier die pietistische Szene) und Sondergemeinschaften wie der Neuapostolischen Kirche und den Zeugen Jehovas gibt. Als ehemaliges Mitglied einer freikirchlichen Pfingstgemeinde gehöre ich auch dazu. Bei vielen Menschen führt die Phase der Dekonstruktion in den Agnostizismus oder Atheismus, andere wenden sich anderen Weltanschauungen und Religionen zu, wieder andere kehren in die christliche Kirche zurück, selten aber in die, aus der sie ursprünglich stammen.

Bei mir ist der Dekonstruktionsprozess nicht abgeschlossen. Aber nach dem krankheitsbedingten Zweifel an Gott habe ich mich intensiv mit anderen Deutungsvarianten beschäftigt. Da kam ganz zwangsläufig der auf Vernunft aufbauende Atheismus/Agnostizismus ins Spiel. Noch stärker aber habe ich mich mit dem Buddhismus beschäftigt, v.a. in seiner tibetischen und in seiner Zen-Variante. Insbesondere dieser Weltreligion, die man besser eine Welt-Psychologie nennen kann, verdanke ich viel an Selbsterkenntnis und an Achtsamkeitsbewusstsein. Aber dann erkannte ich in der Retrospektive einer Begegnung mit ostkirchlicher Spiritualität und der liberalen Theologie der evangelischen Kirche, dass ich im christlichen Glauben, evangelische Variante, zu Hause bin. Ich brauche ein spirituelles Gegenüber, ein "DU", wie es der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber ausgedrückt hat. Das zog mich zurück in die evangelische Kirche, nicht jedoch in die freikirchliche Pfingstgemeinde.

Nach dieser Einleitung: Was glaube ich nicht mehr? Und was glaube ich?

1. Die Bibel ist das Wort Gottes. - Nein, das glaube ich nicht mehr. Die Bibel ist eine Sammlung von Geschichten und Erfahrungen, die Menschen mit Gott gemacht. Als solche enthält sie das Wort Gottes.

2. Alles, was in der Bibel steht, hat sich 1:1 so zugetragen. - Nein, die Bibel ist voller Mythen, Sagen und Legenden, Zuschreibung und Dichtung. Es gab keine Schöpfung in sieben Kalendertagen, keinen Adam und keine Eva, keinen Turmbau zu Babel und keine Sintflut. Das sind Bilder, die uns bestimmte Dinge über Gott und die Welt lehren, aber keine Reportagen aus der Vergangenheit. Die großen Gestalten der Erzväterzeit sind ebenso mythisch wie der Exodus. Mit der Richterzeit treten wir in das Reich der Sagen (ähnlich wie die germanischen Sagen der Völkerwanderungszeit) und erst mit der späten Königszeit erreichen wir verlässlichen historischen Boden. 

3. Die Evangelien sind akkurate 1:1-Berichte über Jesus, von Augenzeugen beschrieben. - Nein, die Evangelien sind lange nach Jesu Tod (und Auferstehung) entstanden. Sie enthalten Teile des Lebens Jesu und propagieren seine Botschaft als Erlöser. Sie sind aber keine Biographien im heutigen Sinne. Ob Jesus übers Wasser gewandelt ist, scheint fraglich. Dass er mehr war als bloß ein Mensch ist für mich unstrittig. Aber er ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in Bethlehem geboren und die Mariengeschichte ein dazugehöriger schöner Mythos. Sicher ist mir seine Kreuzigung und - so unwahrscheinlich es auch ist - seine Auferstehung.

4. Gott ist rachsüchtig und straft uns für unsere Sünden. - Nein, Gott ist ein Liebhaber jedes Menschen, freundlich und voller Güte. Die Trennung des Menschen von Gott, die wir Sünde nennen, mag die Menschen zerstören. Aber Gott sieht die Menschen durch die Liebe seines Sohnes Jesus und notiert nicht wie ein Buchhalter, was wir falsch machen.

5. Gott ist allmächtig und kann alles. - Nein, Gott "kann nicht alles". Er macht, was seinem Charakter entspricht und mutet uns zu, mit offenen Lebensfragen zu leben. Warum leide ich? Warum habe ich Krebs? Warum sterben bei einem Tsunami 200.000 Menschen? Diese Fragen bleiben offen und unbeantwortet. Aber auch im tiefsten Elend ist Gottes Barmherzigkeit grenzenlos und da, wo der Mensch mit seinen Kräften am Ende ist, da spendet Gottes Liebe immer noch Kraft. Ja, Gott ist eine Krücke des Trostes für die Menschen, die ihn brauchen.

6. Glaube ist wichtiger als Wissen. - Nein, beides ist gleich wichtig. Allerdings beschreiben sie unterschiedliche Sphären. Das Wissen erforscht die Welt, beschreibt und vermisst sie. Prinzipell ist die Wissenschaft gott-los. Wenn Gott außerhalb der Welt steht, kann die Wissenschaft ihm nicht auf die Schliche kommen. Daher formuliert der moderne Atheismus sehr richtig: "Es gibt (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) keinen Gott." Dies spiegelt die Möglichkeiten wider, die der Wissenschaft zur Verfügung stehen. Allerdings ist der Atheismus da schmal, wo es um die Frage eines Sinnes geht. Hier kommt der Glaube ins Spiel, was ich einmal die "Musik des Lebens" genannt habe. Der Glaube beschreibt die Welt des Sinnes, den der Glaube einer nicht bewiesenen und nicht beweisbaren Entität namens "Gott" zuschreibt. Es ist so wie beim Mathematiker und einem Maler: Der Mathematiker vermisst die Welt, der Maler malt sie, wie er sie sieht. Beides hat gleichermaßen seinen Platz und seine Grenzen.

7. Alle Religionen außer dem Christentum sind falsch. - Nein. Wir finden viel Wertvolles im Erbe der Religionen und beileibe nicht nur im von den Christen neuerdings so geschätzten Judentum. Alle Religionen sind auf dem Weg der Suche nach der Wahrheit, sie beschreiten unterschiedliche Wege und bedienen sich ihrer kulturellen Möglichkeiten. Aus vielen Gesprächen mit Christen entnehme ich deren Faszination für das Judentum und ich sage dazu auch "Gut so",  nach mehr als 1200 Jahren christlichem Antijudaismus wurde das auch mal Zeit. Ich hingegen finde im Buddhismus viel Wertvolles, das zu meinem Leben als Christ passt. Es ist an der Zeit, die religiösen Scheuklappen fallen zu lassen und von anderen Religionen zu lernen. Christen, die Yoga praktizieren - why not? Christen im Zazen - finde ich gut. Es gibt dabei Grenzen, derer man sich bewusst sein sollte. Wenn der Zen-Buddhismus die Auflösung aller Begriffe und aller Substanz durch Zazen postuliert, dann gehe ich da nicht mit, da ich das mit meinem Glauben nicht vereinbaren kann. 

8. Jesus starb für unsere Sünden im Gericht Gottes. - Nein, Gottvater lässt seinen Sohn nicht am Kreuz sterben und rächt sich an ihm. Ich glaube vielmehr daran, dass die Bosheit von uns Menschen Jesus ans Kreuz gebracht hat und dass er, ein vollkommen Gerechter, an unserer Ungerechtigkeit freiwillig zugrunde gegangen ist. Das Sterben Jesu am Kreuz ist Gottes Solidaritätserklärung für alle leidenden Menschen auf dieser Welt. Leid zu sehen ist nämlich das eine, Leid selbst durchlitten zu haben ist etwas völlig anderes. Mir sind in meinem Krebsleiden Menschen besonders wichtig, die diese oder eine andere schwere Krankheit selber haben oder hatten. Und so ist es bei Gott auch: Er hat seinen einzigen Sohn sterben sehen. Und bei Jesus ist es ebenso: Er ist buchstäblich durch die Hölle des Leidens gegangen. Damit setzt die göttliche Dreieinigkeit ihr Siegel darauf: "Leidender Mensch, ich bin bei dir weil ich weiß und es selbst erlebt habe, wie es dir jetzt gerade geht."

9. Nur die Evangelikalen wissen, wie die Bibel auszulegen ist. - Nein, manchmal haben die Evangelikalen ein frommes Brett vor dem Kopf. Die angebliche 1:1-Auslegung der Bibel ist ziemlich neu, sie entstand in dieser Radikalität erst im 19. Jahrhundert auch in der Auseinandersetzung mit der damals aufbrechenden Welle der Säkularisierung. Wenn schon die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung viele alte Wahrheiten wegspülten, so sollte doch die Bibel nur noch "anhand der Bibel" ausgelegt werden. Diese Theologie aber war neu und reaktiv, selbst vom Geist der Moderne inspiriert. Ich hingegen glaube, dass die Bibel immer wieder neu und im Dialog mit ihrer Zeit auszulegen ist. Sie ist kein museales Schmuckstück, das uns aus antiker Vorzeit überliefert worden ist, sondern ein bleibender Schatz, der ab und zu poliert werden muss,  um keinen Staub anzusetzen.

10. Gott hasst die Sünde und liebt den Sünder. - Nein, das ist so eine Leerfloskel der Elitechristen, mit der sie tatsächlich auf den Sünder eindreschen. "Komm, wie du bist" heißt es als Einladungstext. Tatsächlich darf aber nur der im christlichen Club mitspielen, der sich den dort herrschenden Regeln anpasst. Kann man so machen, entspricht aber nicht der christlichen Botschaft, die bei mir "kommt zu mir, alle die ihr mühselig und beladen seid" heißt. Warum soll jemand, der als Homosexueller angeblich in Sünde lebt, sein Verhalten ändern? Was kann er dafür, dass seine sexuelle Identität von den Elitechristen nicht akzeptiert wird? Ich glaube nicht, dass Gott im Himmel laut "Igitt" über ihn schreit. Vielmehr bin ich überzeugt davon, dass Gott diesen Menschen genauso geschaffen hat, wie er ist und dass Gott ihn genauso liebt, wie er ist. Das Wesen Gottes ist Liebe und der Mensch als Ebenbild Gottes ist damit Widerspiegler der göttlichen Liebe. Das gilt unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Religion und eben auch unabhängig von sexueller Identität. Daher gibt es keinen Grund, von Menschen mit anderer sexueller Identität als der konventionell-konservativen eine Änderung zu erwarten. Und erst recht keinen, ihnen den göttlichen Segen für ihren weiteren Lebensweg (z.B. in einer gleichgeschlechtlichen Ehe) vorzuenthalten. 

Ich könnte noch mehr schreiben, mache hier aber erstmal Schluss.