Tag 5/1
Ich schreibe unregelmäßig. Die letzten Tage waren nicht so
einfach, dabei war ich der Ansicht, dass ein oder zwei Tage reichen würden, den
Körper an die Chemo zu gewöhnen. Dem ist aber nicht so. Stattdessen: Schwindelgefühle,
Zittern, Abgeschlagen sein und Mattigkeit, die sich abwechseln.
So schleppte ich mich durch den Sonntag, schwerfällig und
unsicher. Vieles, was mir sonst leicht von Hand gegangen ist, dauert jetzt
erheblich länger. Und nein, ich bin kein Meister darin, andere Menschen um
Hilfe zu bitten. Hänge ich meine Selbstachtung daran, was ich alles noch selber
machen kann?
Gedanken zu Tabletten
Ich hasse Tabletten. Lieber lasse ich mir eine Spritze
setzen. Aber Tabletten, die man wie Bonbons nehmen kann und die dann im Körper
werweiswas anstellen?
Nein!
Ich nehme nun jeden Tag mindestens sechs verschiedene
Medikamente zu mir, an einigen Tagen auch noch weitere. Und die schlimmste
Tablette kommt jeden Abend nach dem Abendessen. Lecker. Also am besten alles
absetzen, dann gibt es auch keine Nebenwirkungen, oder? Dummerweise
funktioniert mein Körper nun anders. Da kam mir gestern der Gedanke: Die
Tabletten helfen mir mit allen ihren blöden Nebenwirkungen, dass der Körper
wieder ins Lot kommt. Ohne Tabletten also keine Gesundheit. Bumms, aus, fertig.
Da muss ich die Einstellung zu den Dingern also ändern?
Ja.
Nun steht mir gegen die Schmerzen ein Opiat zur Verfügung. Die
Ärztin im UKE nennt sie die „Omadosis“, d.h. gut verträglich und nicht abhängig
machend. Aber: Das Opiat macht leicht schläfrig. Autofahren ist dann nicht
mehr. Zwar fahre ich derzeit kein Auto, aber auch hier: Das kratzt meine
Selbstachtung an, wenn ich nicht mehr das Auto bewegen darf.
Was ist also wichtiger?
Mich erstaunt, wie meine Gedanken zu diesem Tablettenthema
Aufschluss über das Grundgerüst meiner Gedanken und meiner Persönlichkeit
geben. Schritt für Schritt drängt sich ein anderes Leben in mein bisheriges und
stellt mir die Frage: Was, Stefan, ist dir wirklich wichtig?
Bei Timothy Keller fand ich den Satz, der in etwas so lautet:
„Die Menschen begreifen nicht, was sie alles an Jesus haben, bis Jesus alles ist,
was sie noch haben.“
Gedanken über Menschen und Herrn K
Krebs ist die ultimative Krankheit, so kommt es mir vor. Wer
Krebs hat, über den ist das rasche Todesurteil bereits gesprochen. Wie weit ist
er schon? Wie lange hast du noch? Ein Arbeitskollege kam am Donnerstag zu mir
(er hatte es gerade erst erfahren) und sagte: „Wirst Du ab nächste Woche keine
Haare mehr haben?“ – und er sagte das in ehrlich besorgtem Ton.
Herr K schreckt. Mich. Dich. Viele.
Fast jeder hat seine Vorstellungen und Erfahrungen mit
dieser Krankheit. Und sie stellt die bange Frage: „Und wenn es mich treffen
sollte?“ Viele kennen wenigstens aus der Familie, dem Freundeskreis, den
Berufskollegen Krebsfälle – und ziehen Vergleiche. Mit einem Male steht die
Endlichkeit des auch eigenen Lebens vor der Tür.
Herr K stellt Fragen, die ins Eingemachte gehen.
Mir dämmern immer Krebsgeschichten anderer Menschen aus
meinem Umfeld auf: Mein Vater 1993, ein Kollege 2010, ein Nachbar 2016. Alle
tot. Und bei mir im Haus: 2 weitere Krebskranke, z.T. seit Jahren leidend. Zu
welcher Gruppe gehöre ich? Zu den Todgeweihten? Zu den Erfolgsgeschichten?
Ehrlich: Ich bin der Ansicht, dass Herr K sehr individuell
vorgeht. Daher gleichen sich die Geschichten nicht wie ein Ei dem anderen, sondern
sind im Seelenkern immer unterschiedlich. Wie viele Krebsarten gibt es? 100?
1000? Und was heißt das überhaupt: Krebs? Tumor im Gehirn, Metastase in der
Lunge, zu viele Blutkörperchen in der Vene, Bauchspeicheldrüse auf halb acht,
zusammenstürzendes Knochengewebe und und und…
Bin ich also ein hoffnungsloser Fall?
Nein!
Kein Krebs im Endstadium. Kein Krebs, der in die Kategorie „Palliativmedizin“
fällt.
Hoffnungsschimmer
Ich hasse den Satz „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Das ist so
eine Durchhalteparole, die ich nicht ertragen kann, sie sagt nämlich: Worauf du
deine Hoffnung setzt, das wird dir als letztes zwar, aber ziemlich sicher
genommen werden. Und da sage ich: NEIN! Meine Hoffnung stirbt nicht, meine
Hoffnung erfüllt sich. „Es bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung – diese drei.“ (1.
Korinther 13:13).
Herzliche Grüße, Alsterstewart