Dienstag, 19. Dezember 2017


19.Dezember 2017 (Dienstag)

 

Es ist heute genau ein Jahr her….

Heute gedenken die Menschen der 12 Toten vom Breitscheidplatz. Der Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt ist heute vor einem Jahr geschehen. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich damals das Fernsehen einschaltete und Bilder und Berichte auf mich wirken ließ. Nach den Erfahrungen mit dem Anschlag von Nizza im Sommer 2016 war mir klar, dass es sich nicht um einen Unfall handeln konnte. Bilder und Berichte entfalteten ein düsteres Szenario.

Ich war genau in der richtigen Stimmung dafür.

Denn es ist heute genau ein Jahr her….





Vor genau einem Jahr eröffnete mir der Orthopäde am Neuen Wall das Ergebnis der Kernspintomografie meiner linken Schulter. Er erzählte einiges zum Thema und kam dann mit dem Verdacht „Plasmozytom“, da wäre eine „Szintigrafie“ erforderlich, vorher müsse aber ein Blutbild gemacht werden. Kurz und gut: Heute vor einem Jahr löschte nicht nur der Attentäter von Berlin zwölf Leben aus, heute vor einem Jahr löschte die Verdachtsdiagnose „Krebs“ mein bisheriges Leben aus.

„Plasmozytom“ hört sich nicht wirklich besser an als „Multiples Myelom“.

In Gesprächen mit anderen Krebspatienten habe ich immer feststellen dürfen, dass der Moment der Diagnose fast eine Art Initiationsritus ist. Praktisch jeder kann sich erinnern, wo er war, wann es war und wie er reagierte hatte, als die Diagnose „Krebs“ gestellt wurde. Darüber haben sich die Krebsler in der Reha ausgetauscht wie Christen über das Thema „wie bist du zum Glauben gekommen“.

Die Weihnachtslichter strahlen heute wie sie damals strahlten. Mir war das Weihnachtsfest früher ein Ort des Friedens, der Ruhe und der Besinnung. Klischeehaft. Von mir aus. Aber ich konnte es genießen, dass einmal im Jahr der Betrieb für einige Tage zur Ruhe kam und das Jahr seine letzten Tage aushauchte. Diese Ruhe, dieser Frieden und diese Besinnung ist nun Vergangenheit, die nicht mehr wiederkommt. Weihnachten wird mich nun immer daran erinnern, wie diese Krankheit in mein Leben gekommen ist.

Ich bin ein Typ, der gerne und ausdauernd zurückblickt. Da kann ich doch gut und gerne Bilanz ziehen?

Nur so viel: Die letzten 12 Monate haben mich das Leben aus ganz anderen Perspektiven sehen lassen. All die Beschwerden, Ängste, Behandlungen… Das immer wieder neu anfangen, dann wieder aufhören, Schmerzen links, Schmerzen rechts, Tabletten, Spritzen. Und dann die immergleiche Langeweile des Tropfes. Wie verändert sich ein Mensch, der durch die Krebstherapie geht?

Meine Gedanken sind zerhackt. In längeren Gedankenzusammenhängen nachdenken ist nicht mehr möglich. Die Gedanken hüpfen von hier nach da, dann links und dann rechts, bleiben nirgendwo länger und verlaufen dann im Nirgendwo. Das Gedächtnis ist angegriffen. Was ich eben noch für wichtig hielt, habe ich jetzt schon wieder vergessen.

Wollte ich nicht neu über den Sinn nachdenken?

Wollte ich mir nicht Gedanken darüber machen, was mir nun wirklich wichtig ist?

Pustekuchen.

Einmal im Monat treffe ich mich mit einem Psychoonkologen. Das sind gute Termine. Mir wird in den Gesprächen immer neu vor Augen geführt, dass ich eine ernsthafte und sehr schwere Krankheit habe oder hinter mir habe, und dass das alles nicht ohne tiefe Auswirkungen auf meine Persönlichkeit und auf meine Befindlichkeit bleibt. Im Gegenteil: Die Krankheit hat massiven Einfluss auf mein Leben genommen. Ich kann den Einfluss zurückdrängen so wie die Medikamente die Krankheit zurückgedrängt haben und in Schach halten. Aber das braucht Zeit. Viel Zeit. Noch mehr Zeit.

Habe ich diese Zeit?

„Mensch, du siehst ja gut aus“ wird mir wohlmeinend gesagt. Da kommt aber meine Psyche nicht mit. Denn hinter dem vermeintlich gesundem Äußeren stecke ich mit diesen vermaledeiten 12 Monaten im Gepäck. Nein, meinem Körper geht es gut, die Seele ist angegriffen. Da hilft dann auch kein Schulterklopfen mehr.

Das Leben schreitet fort, ich kann die Zeit nicht anhalten oder wenigstens die Welt darum bitten, dass sie wartet, bis ich weiterkann. Die Welt dreht sich – auch ohne mich. Da muss ich meinen Platz erkämpfen.

Kämpfen – schon wieder.

Die Monate waren eine Abfolge von Kämpfen. Immer wieder neu musste ich meinen Köcher füllen und das Schwert umschnallen, um mich für die Ereignisse zu wappnen. Jeder Schritt ein Kampf, jeder Atemzug eine Herausforderung. In den stilleren Stunde folgt die Erschöpfung. Und diese Erschöpfung bricht überall durch. Ich kann Gesprächen nicht mehr richtig folgen. Die Konzentration lässt schlagartig nach. Bücher verlieren ihren Reiz. Auch der Schlaf hilft nicht. Kampf und Krampf auf einmal.

Na klar, ich kann hier auch etwas Frommes schreiben. Doch kann ich nicht verhehlen, dass auch mein Glaube sich verändert hat. Was kümmern mich Dogmen? Mein Glaube ist nicht mehr akademisch. Er ist auch nicht mehr so sauber gelackt und aufgeräumt, wie ich ihn früher haben wollte. Mein Glaube hat Dellen bekommen, er hat Narben, er hat auch hässliche Seiten, ist an Stellen schmutzig und stinkig geworden. Kostbare Teile des Glaubens sind durch den Fleischwolf gedreht worden. Um nicht ganz abzustürzen musste auch Ballast abgeworfen werden, der nun im Dreck der Erde liegt.

Eines verbittet sich der Glaube: Einfache Antworten auf komplizierte Fragen.

Es bleibt nur noch das nackte Vertrauen darauf, dass Gottes Liebe stärker ist.

 Psalm 142

1 Ein Maskil von David, als er in der Höhle war. Ein Gebet.
2 Ich schreie mit meiner Stimme zum Herrn, ich flehe mit meiner Stimme zum Herrn.
3 Ich schütte meine Klage vor ihm aus und verkünde meine Not vor ihm.
4 Wenn mein Geist in mir verzagt ist, so kennst du doch meinen Pfad; auf dem Weg, den ich wandeln soll, haben sie mir heimlich eine Schlinge gelegt.
5 Ich schaue zur Rechten, siehe, da ist keiner, der mich kennt; jede Zuflucht ist mir abgeschnitten, niemand fragt nach meiner Seele!
6 Ich schreie, o Herr, zu dir; ich sage: Du bist meine Zuflucht, mein Teil im Land der Lebendigen!
7 Höre auf mein Wehklagen, denn ich bin sehr schwach; errette mich von meinen Verfolgern, denn sie sind mir zu mächtig!
8 Führe meine Seele aus dem Kerker, daß ich deinen Namen preise! Die Gerechten werden sich zu mir sammeln, wenn du mir wohlgetan hast.

 
Es ist also genau ein Jahr her….

Dienstag, 12. Dezember 2017


 

 12. Dezember 2017 (Dienstag)

 
Die Wochen sind fortgeschritten, eine um die andere. Der Arbeitsalltag hat mich wieder, also Normalität in einer durchweg unnormalen Zeit. Habe ich „es geschafft“? Es gab Skeptiker, die meinten, es wäre besser für mich, wenn ich allmählich einsteige in die Arbeit. Das hat mich nicht überzeugt, ich bin sozusagen wieder „voll“ da. Das einzige, was mich allerdings beeinträchtigt hat, ist eine hartnäckige Erkältung, ein Husten, der einfach nicht weichen will.

Als ich feststellte, dass mit meinen Atemwegen irgendwas nicht stimmt, lief natürlich sofort ein Film ab. „Bekomme ich genug Luft?“ „Und wenn es doch etwas Schlimmes ist…?“ Das ergibt sich ganz von selbst. Dabei sagt die Vernunft: „Lieber Stefan, du nimmst doch deine Medikamente, auch die gegen Embolien und Thrombosen – da kann  nichts Schlimmes passieren.“ Aber der Bauch sagt:_ „Achtung, Stefan, es kann auch etwas Schlimmes sein.“ Nun habe ich seit fünf Wochen Husten und bin dementsprechend gestimmt.

 

Mein Vater und ich

Mitte November hatte ich so richtig Spaß, denn da stand die Knochenmarkpunktion an. Und das war die mittlerweile dritte in diesem Jahr nach denen im Januar und im September. Eigentlich ist das aus meiner Sicht nichts wirklich Schlimmes, nur unangenehm bleibt es doch. Den Tag vorher muss ich Urin sammeln (jedes einzelne Tröpfchen!) und dann eine Probe daraus unter Angabe der Gesamtmenge im Krankenhaus abgeben. Eigentlich eklig. Die Punktion läuft dann routinemäßig ab: lokale Betäubung, Entnahme des Gewebes, Erholung, Ende. Unangenehm, aber unspektakulär.

Dieses Mal war es anders: Die Entnahme des Knochenmarkgewebes war schmerzhaft, es zog durch den ganzen Körper. Ich habe schon schlimmere Schmerzen erlebt, aber das kam unerwartet.

Doch dann kam in mir ein Gedanke auf: Dein Vater hat dieselbe Krankheit gehabt wie du.

Mein Vater hat im Jahr 1992 über Schmerzen im Schulter- und Ischiasbereich geklagt. Über Monate mal mehr und mal weniger intensiv. Im Frühjahr 1993 hat er sich noch ein neues Auto gekauft und ist mit meiner Mutter damit an den Gardasee gefahren. Doch irgendwann im Juni 1993 ging gar nichts mehr. Die Schmerzen waren unerträglich und zogen sich durch den ganzen Oberkörper.

Was ist nur los mit ihm? Es wurde allmählich klar, dass er etwas Ernstes hat. „Abstreifungen an den Rippen“ ergab das Röntgenbild. Die Knochen lösten sich auf. Eine Odyssee von Arzt zu Arzt folgte, kreuz und quer durch Hamburg und das Hamburger Umland. Endlich fand sich ein Arzt, der ihm sagte: „Sie werden eine Art Krebs haben.“ Niederschmetternd.

Im Juli kam er ins Krankenhaus (AK Wandsbek). Die verschiedensten Diagnoseverfahren brachten kein aussagekräftiges Ergebnis. Nur so viel stand fest: Osteolyse, was Symptom, aber keine Krankheit ist. Mittlerweile arbeitete der Krebs bereits so intensiv in ihm, dass mein Vater unentwegt schwitzte und dabei vor Schmerzen weinte. Im Laufe der Wochen setzte die Wirkung der Morphinpräparate ein und die Schmerzen waren etwas gelindert.

Als ich ihn im August oder September 1993 im Krankenhaus besuchte, gingen wir zusammen in die Raucherecke (so etwas gab es damals in Krankenhäusern noch und mein Vater war starker Raucher). Wir führten dort unser letztes Gespräch über Gott und die Welt. Als wir nebeneinander durch das Krankenhaus in die Raucherecke gingen (mein Vater am Gehwagen) fiel mir auf, dass er ganz klein geworden war. Nun war er zeitlebens nie ein Riese, aber so winzig?  Was hatte ihn so schrumpfen lassen? Heute weiß ich es: Die Krankheit hatte Wirbel gebrochen. Das kam mir in den Sinn, als ich meine Knochenmarkpunktion hatte, denn MM führt zur Osteolyse.

Eine Woche später wurde uns mitgeteilt, dass er nur noch ein paar Wochen zu leben hat, Anfang Oktober 1993 ist mein Vater dann gestorben. Es hieß, dass der „Primärherd“ seiner Krebserkrankung nicht gefunden werden konnte, vielleicht säße er in der Lunge.

Für mich war damals klar: Er war Raucher, hat sich wenig bewegt, einiges getrunken und er hatte beruflich enorm viel Stress. Irgendeinen Krebs hat er heraufbeschworen, vermutlich Lungenkrebs.

Heute denke ich anders: Das Krankheitsbild passt anhand meiner Erinnerungen zu meiner Krankheit. Dieser Gedanke erschreckte mich. Dann aber dachte ich nach.

Wie weit war die Forschung 1993? Und wie weit ist sie heute? Wann wurde der Krebs bei ihm entdeckt – und wann erhielt ich meine Diagnose? Welche Therapie stand ihm damals zur Verfügung ? Keine!  Und welche mir? Diverse!

Natürlich kann ich mich irren. Aber der Gedanke bleibt: Wir haben bzw. hatten dieselbe Krankheit. Dass ich bisher durch diverse Therapien gegangen bin und diese auch relativ gut durchgestanden habe, macht mich dankbar. Und gleichzeitig motiviert mich das, den Kampf gegen die Krankheit unbeirrt und kompromisslos fortzusetzen.

Ich werde nie aufhören, an meinen Vater zu denken.