Freitag, 12. Januar 2018


Der Blog lebt….

Zu viel


Als ich tief in den Therapien steckte, hoffte ich auf die Zeit nach den Therapien. Ich blätterte durch mein Ablaufbuch und schaute dort in die Seiten mit den Zyklen, die nach all den anderen kamen. „Dann habe ich das Schlimmste hinter mir“… Ich war sogar so vermessen, mir letztes Jahr im Januar vorzustellen: „Im Januar 2018 werde ich über alles das lachen.“

Nein, dieses Lachen ist nicht gekommen.

Was sich 2017 alles ereignet hat, ging halt nicht spurlos an meiner Seele vorüber. Es haben sich tiefe Schneisen in die Seele gegraben. Das ist mir nicht immer bewusst, daher dachte ich im Oktober, ich würde nahtlos in mein altes Leben wechseln können, freilich mit einigen Abstrichen. Aber mehr und mehr dämmert es mir nun, dass es halt doch anders kommt. Das Leben ist anders, ich bin in vielen Bereichen ein anderer geworden – und noch auf dem Weg dahin. Teils kann ich diesen Prozess steuern, größtenteils laufen die Veränderungsprozesse unbewusst ab.

Die Unbewussten machen mir die größten Probleme. Sie äußern sich durch Erschöpfungszustände. Diese kann ich mit etwas Disziplin zunächst meistern. „Stell dich nicht so an. Das muss erledigt werden.“ Dann fällt mir oder – schlimmer – anderen auf, dass ich vieles habe einfach liegen lassen. Es war mir schlicht nicht mehr im Gedächtnis. Da meldet sich also die Seele und sagt mir: „Zu viel!“ Bei den Flippern meiner Kindheit pflegte ein Lämpchen links unten aufzuleuchten: „TILT!“ Die Konsequenz ist also: Eingestehen, dass vieles einfach „zu viel“ ist. Zumindest jetzt, in diesen Tagen, in dieser Zeit, in diesem Jahr, vielleicht für immer.

„Zu viel“ schreit die Seele.

Beispiel Geburtstag: Im Dezember und Januar ist bei uns in der Familie Geburtstagshochsaison. Sage und schreibe sechs Familienmitglieder haben zwischen dem 30. Dezember und dem 22. Januar ihren Geburtstag, mein eigener eingeschlossen. Kann sich hier ein „zu viel“ bereits ergeben haben? Also frisch ans Werk: Ich streiche meinen eigenen Geburtstag aus der Liste der Feierlichkeiten, verlege ihn in einen anderen Monat (ich mag den Januar ohnehin nicht).

„Es ist zu viel“ ist das Eingeständnis, dass meine Kraft Grenzen hat – und dass diese Kraft erheblichen Schwankungen unterworfen ist.  „Aber du hast doch keine Schmerzen..“ Richtig, Gott sei Dank. Aber die Seele, die hat Schmerzen.

Warum gehe ich nicht mehr gerne und daher selten n meine Gemeinde wurde ich heute gefragt. Gerade die Pflege des Glaubens in Gemeinschaft mit anderen Christen wurde mir ans Herz gelegt, ausgerechnet von meinem Psychoonkologen. Meine Antwort ist: „Zu viel“. Ich erlebe laute Gottesdienste mit vielen Menschen, viel Aktion, viel Tamtam und am Ende mit viel „entscheide dich..“ als unproduktiven Stress. Was andere Menschen als lebendig und damit gut empfinden kostet mich viel Kraft. Das Zusammenspiel aus Lautstärke, Lichteffekte und dichtem Menschengedränge ist für meine Seele schwer zu verarbeiten.

„Zu viel“ schreit die Seele.

„Aber du hast doch deine Krankheit schon hinter dir.“ – Nein, ich bin mittendrin. Selbst wenn MM komplett heilen würde, was es nicht tut, blieben immer noch die Schneise in der Seele, die Wunden und die Narben.

 

Bullshit-Bingo

Heute fand ich ein „Bullshit-Bingo“ im Wartebereich der Psychoonkologie, das ich bei Facebook eingestellt habe. Da sind viele der Floskeln enthalten, die auch mir bekannt sind.  Am besten fand ich „Man sieht es dir gar  nicht an“ und „Du musst immer positiv bleiben“. Ja, danke. BINGO.

Ich kenne zudem noch: „Du siehst heute aber gut aus.“

Als christlicher Krebspatient mit charismatischem Hintergrund kann ich noch hinzufügen: „Du musst an deine Heilung glauben.“

Das Schlimmste, was mir ein Mitchrist gesagt hat, war „Du darfst nicht daran denken, dass dein Krebs nicht heilbar ist. Gott kann alles heilen und du errichtest eine Gedankenfestung.“ Das ist erstens herzlos, zweitens unsensibel, drittens manipulativ und viertens fragwürdig. „Du darfst nicht…“ – Was ich darf und was ich nicht darf ist in Bezug auf meine Krankheit meine Sache, die ich gegebenenfalls mit meiner Frau und mit den Ärzten bespreche. Und noch heute beiße ich mir in den Allerwertesten, dass ich der Person damals das nicht geradewegs ins Gesicht gesagt habe: „Halt Dich mit solchem Gedankenmüll in meiner Gegenwart zurück.“


Geistliche Wanderschaft

Ich glaube, dass ich als Christ auf der Wanderschaft bin. Generell kann man christliches Leben mit einer Wanderschaft vergleichen: Abraham wandert aus Haran ins verheißene Land. Das Volk Israel wandert durch die Wüste ins gelobte Land. Jesus ist mit seinen Jüngern kreuz und quer unterwegs durch Israel. Die Kirche kennt die Pilgerschaft zu Wallfahrtsorten. Sogar eines der einflussreichsten Büchern puritanischer Frömmigkeit beschreibt eine Reise („Die Pilgerreise“ von Thomas Bunyan).

So mag es nun an der Zeit sein, als Christ auf Wanderschaft zu gehen. Das ist nicht unbedingt lokal zu verstehen, sondern viel mehr geistlich: Welche neuen Wege plant Gott für mich? Das wird spannend.

Liebe Grüße, Alsterststewart

1 Kommentar:

  1. Oh Stefan, du schreibst mir aus der Seele - die Sprüche von sog. Geschwistern sind schlimmer als alles dumme Gerede von wohlmeinenden Freunden. Mir hat eine bei uns sehr bekannte Person (weibl)aus der Gemeinde gesagt, bei MEINER Einstellung könne ich ja nicht geheilt werden. Ich war gerade auf dem Weg durch den Gemeinderaum zu dem Heilungsgebet.Sie wollte noch einige Sprüche von Colin Urquardt loswerden, konnte aber ihre Weisheiten bei mir nicht ablegen, da hat sie dann beschlossen, daß Gott so einen Menschen wie mich dann ja auch nicht heilen kann.

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