Samstag, 1. Juni 2019



Meine Brille

Das ist kein Text zum Thema Krebs. Es ist die Geschichte der schwierigen Beziehung zwischen der Sehhilfe und mir.


Die Initiation

Es muss ein Wintertag des Jahres 1970 gewesen sein.  Ich war gerade fünf Jahre alt und lag in meinem Bett. Damals bewohnte ich mit meinem Bruder ein acht Quadratmeter-Kinderzimmer in Hamburg-Bramfeld. Unser Bett war ein Doppelstockbett, in welchem ich als der ältere natürlich im oberen Geschoss meine Nachtruhe verbrachte. Mein Bruder durfte sich mit dem unteren Part begnügen.

An diesem Morgen las ich ein Bilderbuch. Lesen? Nein, ich konnte noch nicht lesen, daher betrachtete ich aufmerksam die einzelnen Bilder. In meiner Erinnerung war das irgendwas mit Bauernhof, auf dem sich diverse Tiere tummelten. Das Buch selbst war etwas unhandlich und - da für kleine Kinder angefertigt - mit Pappe in mehreren Lagen verstärkt.

Dann passierte es: ZACK! Durch eine Unachtsamkeit hatte ich mir eine Ecke des Buches, ob Vorder- oder Rückseite weiß ich nicht mehr, direkt in mein linkes Auge gerammt. Frag nicht, wie. Aber die Ecke stach in mein linkes Auge. Ein furchtbarer Schmerz erhob sich - und ich reagierte mit hilflosem Schreien und Weinen. Ein Elternnotruf. "Der Junge muss sofort ins Krankenhaus" entschieden meine Eltern.

Verheult und mit dickem Auge ("Fass das ja nicht an!") kam ich an der Hand meiner Mutter im AKH Barmbek an. Das Auge wurde gründlich untersucht und dann mit etwas Salbe behandelt, ein Verband darüber geklebt. Fertig. Schmerz lass nach. Praktischerweise ergab die Nachbehandlung auch gleich eine Diagnose: "Frau Wartisch, vor allem auf dem linken Auge, aber auch rechts hat ihr Sohn eine Hornhautverkrümmung. Er braucht eine Brille."

Kurze Zeit später folgte Augenarzttermin auf Optikertermin ("Möller und Pöhl") und ich erhielt - täterätää - meine Brille. Und wie bitteschön sah die Brille des Jahres 1970 aus? Ein düsteres, dafür aber klobiges Horngestell umfasste zwei schmale, leicht dreieckige Gläser. Kindgerecht. Die Erwachsenen trugen so ähnliche Brillen, nur größer. Zu meiner Verblüffung aber empfand ich keinerlei Unterschied zwischen dem Sehen ohne und dem Sehen mit Brille.

Was mir damals seltsam vorkam, ist die mir heute wolhbekannte Tatsache, dass mein rechtes Auge freundlicherweise das Sehen für die linke Gesichtshälfte übernommen hat. Links funktioniert kaum. Ich bin sozusagen blind auf dem linken Auge.


Descente à l´enfer

Ein Junge von fünf, sechs, sieben Jahren, der eine Brille trägt. In den frühen 70er Jahren (das "bunte" Jahrzehnt, in dem alle happy waren) war das ein Vernichtungsurteil. Schon mein Vater, der mir seinen berüchtigten Sarkasmus vererbt hat, empfing mich mit den Worten: "Na du bebrillter Ömmes." Ich spürte eine gewisse Erschütterung der Macht.

In dieser Zeit feierte ich ein Erlebnis, das jeden Menschen in Deutschland früher oder später ereilt: Die Einschulung. Im September 1971 stand also ein bebrillter Ömmes mit blauer Schultüte leicht ungelenk auf dem Schulhof der Grundschule Heinrich-Helbing-Straße und starrte ausdruckslos in ein Fotoobjektiv (schade, dass ich keine Fotos da habe). Ich war nicht der einzige Brillenträger in meiner Klasse, aber der einzige Junge mit einer Brille. "Brillenschlange" war daher der erste Spitzname, den sich meine Mitschüler für mich ausgedacht hatten. Das war nicht sonderlich kreativ, aber durchaus einprägsam. In der Klasse 1a von 1971 gab es ja - wie gesagt - nur einen einzigen Jungen mit Brille.

Es ist nicht verwunderlich, dass sich das Motiv "Bebrillter Ömmes, den man Brillenschlange nennt" durch meine Grundschulzeit zog. Heute ist das kaum noch nachvollziehbar, damals aber gab es nur sehr wenige Brillenträger in meinem Alter. Und denkt nur nicht, dass die wenigen, die ein "Nasenfahrrad" (auch so eine spaßige Bezeichnung), als Gesichtsverzierung trugen, untereinander solidarisch waren. Im Gegenteil. Da herrschte Hauen und Stechen, schließlich freute sich jeder Bebrillte, dass selbst im unteren Bereich sozialer Beliebtheit immer noch genug Platz im hinteren Bereich war. Dorthin wurden dann diejenigen geschoben, die sich entweder nicht zu wehren wussten - oder die ein ganz besonders hässliches "Nasenfahrrad" ihr eigen nannten.

Wir schrieben 1975: Die flippigen Seventies-Modelle zierten die Augen der Nachzügler. Ich trug, wie gesagt, eine düstere Hornbrille mit kleinen Gläsern, Modell von irgendwas rund um 1966.


Der blaue Rahmen

Damals waren lange Haare in. Jeder Junge, der etwas auf sich hielt, musste zwei Dinge haben: Erstens ein Bonanzarad, zweitens lange Haare.

Ein Bonanzarad war ein Fahrrad mit einem bananenförmige Sattel, hochgezogener Lenkstange und ohne Gepäckträger. Wichtig waren die roten, kreisförmigen Reflektoren, die man Katzenaugen nannte, und die an dem Fahrradgestänge effektheischend angebracht waren. Ich hatte kein Bonanzarad ("zu teuer"), aber einen frisch montierten Bananensattel auf meinem Kinderrad. "Voll spastig" war der Kommentar meiner Altersgenossen.

Aber ich hatte lange Haare. Nicht sehr lang, sondern so durchschnittslang. Sie entluden sich über meine Ohren und hatten eine Länge erhalten, dass ich sie sogar in den - Vorsicht beim Weiterlesen -  Mund nehmen konnte. Cool war das, auch wenn es dieses Wort 1975 noch nicht in die Jugendsprache geschafft hatte.

Dazu passte Hornbrille Model 1966 nicht mehr. Mein Gesicht war auch nicht mehr das eines Fünfjährigen. Also ab zum Optiker "Möller und Pöhl" in Barmbek. Die schrieben mir ja immer so freundliche Briefe zum Geburtstag. Das Logo war eine - wie originell - Brille, die die Buchstaben M und P freundlich zu einem Gesicht verband.

Neue Brillengläser. Endlich. Sie waren nicht mehr dreieckig und klein, sondern abgerundet viereckig und groß. Mit nur fünf Jahren Verspätung war ich in den 70er Jahren angekommen! Alles das wurde getoppt durch den blau schimmernden und schmalen Rahmen, der die Gläser einfasste. "Frau Wartisch", erklärte Optikermeister Pöhl meiner Mutter, "ihr Sohn hat sich ein fabelhaftes Gestell ausgesucht." Dem Optiker gefiel´s also, meiner Mutter auch - und mir dann ebenfalls. Abends begutachtete mein Vater das neue Gestell. "Soso, dann eben blau."

Im Hochgefühl neuer Schönheit betrat ich am nächsten Morgen meine neue Schulklasse. Mittlerweile hatte ich die weiterführende Schule erreicht, zudem war der Anteil der männlichen Brillenträger etwas angestiegen. Die Reaktion meiner Klassenkameraden war - null. Eines hatte sich beim blauen Rahmen aber erhalten: "Brillenschlange" blieb eine geläufige Bezeichnung für mich.

Es muss in den unschuldigen Monaten der Jahre 1976 oder 1977 gewesen sein, als ich über den blauen Rahmen nachdachte. Nein, nicht nur über den, sondern über die Brille allgemein. Mochte ich mich damit sehen lassen? Wie reagierte mein Umfeld darauf? Welchen Vorteil brachte mir die Brille? Ich setzte sie ab und betrachtete meine Welt, die damals eine verkehrsreiche Straße in Bramfeld war. Ohne Brille sehe ich gut. Mit Brille genauso gut. Erneute Probe: Brille auf, Brille ab. Kein Unterschied. Als ich nachhause kam, betrachtete ich mich im Spiegel: Ein Junge von vielleicht 12 Jahren, immer noch recht lange Haare (fast kinnlang), mit Brille. Also Brille ab: Ey, was siehst Du gut aus, Stefan.

Ich beschloss: Die Brille bleibt ab.

Schon am nächsten Morgen wurde der Beschluss in Vollzug gesetzt. Brillenlos und gut gelaunt trat ich in die Welt. "Wo ist deine Brille?", fragte meine Mutter. "Setz die Brille auf!", sagte meine Mutter. Ich setzte sie auf und sofort wieder ab. Nie mehr im Leben sollte mich eine Brille quälen, da nahm ich lieber elterliches Unverständnis und entsprechende pädagogische Maßnahmen in Kauf. Was letztere anbelangt kann ich rückblickend festhalten: Ich habe sie brillenlos ausgesessen.


The empire strikes back

Was der 12 jährige beschlossen hatte, blieb jahrzehntelang als eherner Vollzug: KEINE BRILLE!

Mein Sehvermögen wurde zwar nicht besser, aber mein Gefühl hatte diese Fakten besiegt. Selbst die Schwächen beim räumlichen Sehen wurden überwunden.

Sehtest 1984 bei der Bundeswehr: "Welches Kästchen von den vieren kommt ihnen entgegen?" fragte der genervte Sanitätsunteroffizier beim Eignungstest für den Bundeswehrführerschein. Ich nannte das falsche, sie sahen für mich alle exakt gleich aus. "Nehmen sie mal die Pappnase ab" brüllte der freundliche Kamerad. Also riet ich - und gewann! Ich durfte den Führerschein machen. Noch heute erfreue ich mich der Tatsache, dass ich meinen Führerschein "beim Bund" und damit gratis machen konnte. Dank eines geratenen Sehtests.

Ein halbes Jahr später wurde ich erneut durch Bundeswehraugenärzte untersucht. "Hornhaut total verkrümmt links, sieht nicht richtig räumlich" befand Oberstabsarzt Irgendwer und ich war den Bundeswehrführerschein wieder los. Gut, dass ich ihn in der Zwischenzeit zivil habe umschreiben lassen.

Der Makel blieb in meiner Seele haften: Ich sehe links schlecht. Aber Brille, das kommt nicht in Frage.

"Warum guckst du immer so grimmig?" wurde ich eines schönen Tages des Jahres 2000 von einem Arbeitskollegen gefragt, als ich in meinen Monitor schaute. "Ich stelle meine Augen scharf" entgegnete ich. "Wie wäre es mal mit einer Brille?" kam zur Antwort.

Unwort Brille. Aber die traurige Erkenntnis wuchs in mir, dass ich eine Brille brauche. Wenigstens um besser lesen und arbeiten zu können.

Kurz vor Weihnachten 2001 kaufte ich dann meine erste Brille seit jenem legendären blauen Rahmen. Sie war ein mehr oder weniger randloses Etwas und auf der Höhe der damaligen Brillenmode. Als ich sie aufsetzte und in die Welt schaute, die damals eine verkehrsreiche Straße in Hamburg-Wandsbek war, erfasste mich ungläubiges Staunen: Ach, so sieht die Welt aus? Dreidimensional. Und selbst kleine Buchstaben strahlen mir entgegnen und eröffnen mir bereitwillig das Geheimnis ihrer Bedeutung.


Ende gut, alles gut!?

Jaja, ich gestehe, dass ich die Brille nur zum Lesen aufsetze. Nur zum Arbeiten am Computer. Nur zum Kochen. Nur zu den Gelegenheiten, in denen ich besonders scharf gucken muss. Sonst schreite ich brillenlos durch die Welt.

Die Erkenntnis, dass ich ohne dieses Ding aufgeschmissen wäre, ist bei mir angekommen. Ohne Brille kann ich nicht mehr lesen, nicht mehr arbeiten, nicht mehr kochen usw. Die Welt verschwimmt, wenn ich kleine Dinge betrachten muss. Mit zunehmendem Alter sind meine Augen schlechter geworden. Links sowieso, das Auge habe ich ohnehin aufgegeben. Aber das rechte schwächelt auch. Ein Augenarzt hat mir dazu gesagt, dass eben der Augenmuskel im Laufe der Zeit nachlässt und die Hornhautverkrümmung daher nicht mehr so gut ausgeglichen werden kann. Danke für die Erklärung.

Fehlt mir die Brille, dann fehlt mir in der Tat etwas. Also, liebe Brille, schließen wir Frieden.

Dann setze ich sie auf: Ach, sofort bin ich nicht mehr 54, sondern 6 Jahre alt und der Ruf "Brillenschlange" ertönt in meinem Kopf. Im Spiegel schaut mich ein bebrillter Ömmes an.

Hmnnnn....




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