Sonntag, 29. Dezember 2019


Lehren des Jahres 2019


Return of the ugly

Ich lebe nun seit mehr als drei Jahren mit der Diagnose "Krebs, unheilbar". Als am 19. Dezember 2016 der Attentäter den LKW in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz fuhr und viele Menschen in den Tod riss, sah ich mich dieser Diagnose ausgesetzt. Was für ein Koinzidenz! Seither hat sich mein Leben deutlich verändert. Nach Therapie, Krankenhaus, Therapie, neuer Berufsalltag, diverse Infekte und dem kürzlichen Ende der Behandlung im UKE stellen sich jedoch auch Lerneffekte ein.

Im schönen Advent stellten sich die Schmerzen in der linken Schulter wieder ein. Zuerst mäßig, dann zunehmend heftig. Eine gewisse Unruhe machte sich breit. "Das geht vorüber" dachte ich mir. Ging aber nicht. "Die im UKE hätten das ja im Blutbild vom 6.12. gesehen." war der nächste Gedanke. Tja, und auch Nachfrage stellte ich heraus, dass meine letzten Blutproben vom 6.12.  im Geschäftsgang des UKE verloren gegangen waren. "Bitte kommen Sie noch einmal vorbei." 

Die Schmerzen waren immer noch da. Ist die Krankheit wieder aktiv? Kann doch sein. Noch vor eineinhalb Jahre wäre das bei mir Grund zur Panik gewesen. Tagelang, nein wochenlang schlechte Laune. Aber jetzt..... blieb ich vergleichsweise ruhig. Zudem las ich noch einmal, was ich im Mai 2018 mit meiner damaligen Ärztin per E-Mail geschrieben hatte. "Ihre Schmerzen können auch andere Gründe haben. Rückkehr der Krankheit unwahrscheinlich" wurde mir damals geschrieben. Meine Konsequenz: Ich beruhigte mich damit, die Zuversicht wuchs

Also war ich am 20.12. wieder zur Blutprobe. Am 27.12. rief dann meine Ärztin aus dem UKE an: 
Die aktuelle Blutprobe sagt aus, dass alles in Ordnung ist. Keine Spur der Krankheit zu erkennen. 

Meine Lehre: Du kannst Dir die schlimmen Gedanken dann machen, wenn wirklich etwas Schlimmes passiert ist. Vorher sind sie nutzlos und bringen nur schlechte Laune. 

Und die Schmerzen? Die sind längst wieder weg.

Ich habe mich oft gefragt, was wohl gemeint war, wenn Jesus sagte: "Sorgt euch nicht um den nächsten Tag, es reicht, wenn jeder Tag seine eigene Sorge hat." (Matthäus 6:34). Ich denke, ich habe es nun endlich endlich ansatzweise begriffen.


Der Ort der Begegnung

Im September war ich ein paar Tage zu Besuch im Kloster Niederaltaich in Niederbayern, direkt am Ufer der Donau und am Fuß des Bayerischen Waldes. Das Besondere an diesem Ort ist, dass diese Benediktinerabtei eine kleine Kirche im byzantinischem Ritus unterhält. Dort feiern katholische Mönche das Stundengebet und die Gottesdienste im ostkirchlichen Ritus, die dafür errichtete kleine Kirche ist im russischen Stil gehalten. An diesen Gebetszeiten habe ich teilgenommen.

Wie sah das aus? Eine kleine Kirche, an der Stirnseite eine große Ikonostase, drei Ikonen auf Sondergestellen davor aufgestellt, ein paar Kerzenständer mit vielen Opferkerzen im Raum verteilt und an den Wänden Holzsitze, die man ausklappen konnte. Zu dem deutschen Gesang der Mönche (überwiegend aus den Psalmen) nach russischen Kirchenmelodien trat ich in die halb erleuchtete Kirche. Im Vorraum hatte ich mir eine Gebetskerze besorgt, die ich dann zu Beginn der Liturgie an einer anderen Kerze entzündete und vor einer der ausgestellten Ikonen aufstellte. Ich küsste die Ikonen, sprach leise ein kleines Gebet mit meinen Anliegen und suchte mir einen Platz im hinteren Raum der Kirche. Manchmal verbeugte ich mich, manchmal schlug ich das Kreuz nach russischer Weise - immer dabei im Blick, wie es die anderen Besucher und die Mönche es vormachten. Der zelebrierende Priester kam aus dem Raum hinter der Ikonostase mit einem Weihrauchfässchen und schritt, den Weihrauch verteilend, von Person zu Person, von Ikone zu Ikone, durch die ganze Kirche.

Ich kann es schlecht beschreiben, was da alles passierte. Aber nachdem ich meine protestantische Scheu und den Dünkel beiseite gelegt hatte, erfuhr ich die Präsenz Gottes. Ich war mit einer Reihe von Fragen an Gott nach Niederaltaich gekommen, aber dort hatte ich dann einen Eindruck und eine Erkenntnis: Es gibt keine Antwort, die Gott mir schuldig geblieben wäre. Es gibt nur: "Halte dein Leben Gott hin, Er ist da und kennt dein Leid." Ein Bibelvers wurde mir wichtig: "In Stillesein und Hoffen würdest Du stark sein." (Jesaja 30,15). In silentio et in spe erit fortiduo vestra.

Meine Lehre: Manche Lektionen, die uns Gott zumutet, sind unerträglich. Aber es gibt auf die tausend Fragen keine Antwort. Nur ein stilles Hoffen auf Gott, das ist alles.

Ach ja: Seither ist mein Verständnis für die orthodoxe Kirche gewachsen. Es gibt gerade im Bereich Liturgie und Gebetspraxis vieles, was man von den orthodoxen Glaubensgeschwistern lernen kann.

An dieser Stelle: In welcher Form mein Glauben sich am besten entfalten kann, das steht nicht so richtig fest.


Der Wandel

Ich halte gerne fest. Am liebsten wäre es mir, wenn ich die Zeit einfrieren könnte und die schönen Momente von ewiger Dauer wären. Oft tauche ich in die Vergangenheit ein. "Wie schön war es damals." Dann schaue ich auf aus dem Erneuterleben vergangener Erlebnisse in die Gegenwart und finde sie scheußlich. Hätte nicht alles auf dem Stand von 1980 bleiben können? Verklärte Geschichte.

Die Zeit schreitet fort und ich schreite mit der Zeit fort. Welche Menschen umgeben mich heute und welche vor 20, 30, 40 Jahren? Schon da hat sich so viel geändert.  Ich erfahre, dass mich das Festhalten an Vergangenem unfähig macht, die Gegenwart zu erleben und auch mit der Zukunft etwas anzufangen. Als ich nun wieder an die Weihnachten meiner Kindheit dachte, beschloss ich: "Das ist ein lange abgeschlossenes Kapitel. Die Zeit kommt nicht wieder."

In Wirklichkeit folgt auf jeden Anfang eine Zeit des Verweilens, auf jedes Verweilen folgt ein Ende. Alles auf dieser Welt ist vergänglich und einem Kreislauf von Werden und Vergehen unterworfen. Es gibt kein Zurück in eine ideale Vergangenheit und es gibt kein Überspringen der Gegenwart durch ein Leben in Träumen, die man sich für die Zukunft ausmalt. Wenn ich an traumatischen Erfahrungen festhalte oder für die Zukunft nur Schlechtes erwarte, hilft mir auch das nicht weiter.

Meine Lehre: Erst wenn ich bereit bin, sowohl den Anfang als auch das Ende der Lebensläufe zu bejahen, zu akzeptieren und zu integrieren, erfahre ich meine Befreiung zum Leben. 

So kann ich auch mit meiner Krankheit umgehen. Sie ist Teil meines Lebens geworden.







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