Was gibt es Neues? Krebs - Glaube - Fußball
Vor drei Wochen hatte ich wieder ein Gespräch mit meiner Onkologin. Da wurden mir meine aktuellen Myelom-Werte präsentiert. Das Ergebnis war erfreulich: Die Werte sind auf Normalmaß gefallen, die Eiweißleichtketten sind soweit OK, die Nierenwerte gut und der Befall des Organismus zurückgedrängt. Sogar die roten Blutkörperchen und der Blutfarbstoff, die mir vor drei Monaten zu schaffen machten, sind wieder da, wo sie hingehören.
"Wir können von Remission sprechen." meinte Frau Doktor.
Als Myelompatient weiß ich, dass damit der Krebs nicht ausgestanden ist. Es wird weitergehen. Nun wird es noch einen zweiten Termin Anfang Oktober geben, bei dem eine weitere Medizinerin auf meine Werte schauen wird. Dies wird eine ausgewiesene Myelom-Spezialistin im UKE sein, die dann eine Empfehlung geben wird. Ich stehe dann sehr wahrscheinlich vor zwei Alternativen: Die erste ist die Fortführung der jetzigen Therapie als Erhaltungstherapie, d.h. dass ich alle zwei und dann alle vier Wochen zu Chemo und Antiikörpertherapie erscheinen muss. Die zweite ist eine erneute Hochdosistherapie mit (autologer) Stammzellentransplantation. Das würde im UKE stattfinden, ca. zwei Wochen dauern und ein anstrengender Prozess mit vielerlei Infektions-Risiken sein. Aber eine weitere Erhaltungstherapie wäre dann nicht unbedingt erforderlich. Als vermeintlich hartgesottener und leiderfahrener Patient neige ich zu der schnellen Variante: "Lieber einmal richtig heftig und dann ist erstmal Ruhe als ein Dauerkrampf."
Also stehe ich hier vor einer ganzen Reihe von Entscheidungen, die wohl erwogen werden müssen.
Ehrlich: Spaß ist anders.
Dabei erlebe ich, dass diese Krankheit wieder erheblich an meiner Psyche nagt. Die körperlichen Belastungen und die (tödlichen) Gefahren meiner Krankheit mit ihren Begleitumständen haben sich auch auf meine Seele gelegt. Das versteht nicht jeder. "Du siehst doch gut aus." höre ich manchmal. Nun ja, abgesehen davon, dass ich rund 10 Kilo zugenommen habe und die gesunde Gesichtsfarbe von meinem Cortison-Konsum kommt.... Doch plagen mich Gedächtnisschwierigkeiten, Müdigkeit und eine gewisse Form von Traurigkeit gepaart mit tiefen Ängsten. Der Krebs hat sich eben auch in meine Seele gegraben.
Dass ich mich überdies noch mit beruflichen Sorgen herumplagen muss, tut ein Weiteres. Dabei kann ich mich eigentlich nicht über meinen Arbeitgeber beklagen. Mein Chef und seine Vorgesetzten sowie meine Kolleginnen und Kollegen wissen von meiner Krankheit. Damit gehe ich bewusst offen um, sie lässt sich auch nicht verstecken. Ich bin außerdem sehr dankbar, dass meine Vorgesetzten auch Anteil an meinem Schicksal nehmen und mir dabei wohlgesonnen sind. Das ist nicht selbstverständlich, wenn man chronisch kranke Mitarbeiter hat, die nicht mehr so leistungsfähig sind, wie es eigentlich gewohnt war. Doch unglücklicherweise stehen im Unternehmen einschneidende Umstrukturierungen bevor. Meinen bisherigen Job werde ich dann verlieren, der ist in der schönen neuen Welt nicht mehr vorgesehen. Und was dann? Erhalte ich eine gleichwertige Position? Muss ich Einkommenseinbußen befürchten? Diese Unsicherheit belastet mich schon. Immerhin - und auch das ist ein Grund zur Dankbarkeit - muss ich nicht befürchten, infolge der Umstrukturierungen überhaupt entlassen zu werden.
Es sind noch andere Auswirkungen in meinem Leben. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass ich mich noch einmal neu finden muss. Wer bin ich? Was sind meine Interessen? Was sind meine Werte? Wem will ich mich aussetzen?
Prozesshaft entwickelt sich dabei meine Rückkehr in den christlichen Glauben. Ich profitiere sehr von den verschiedenen Formen kontemplativer Spiritualität, die im orthodoxer und katholischer Tradition wurzeln. Im Rahmen meiner Frage, wer ich bin, stellte sich sogar die Konversionsfrage: Soll ich katholisch werden? Oder orthodox? Diese Fragen kann ich mittlerweile gut beantworten: Nein, nein. Meine persönlichen Wurzeln sind in der evangelischen Kirche und der ihr eigenen Freiheit. Ich kann die guten Dinge anderer Konfessionen genießen und doch ganz und gar in meiner Tradition zu Hause sein. Ich muss mich nicht in ein dogmatisches Korsett zwängen (wofür ich in meinem alten Leben vor dem Krebs empfänglich gewesen bin), sondern darf den Glauben in allem Frieden genießen. Christus erscheint nicht als finsterer Richter meines Lebens, sondern als Anteilnehmer an meinem Schicksal und Beistand.
Außerdem darf ich meinen Verstand gebrauchen. Ich nehme mir die Freiheit, die christliche Überlieferung auch hinsichtlich ihrer Stimmigkeit zu prüfen. Die Bibel enthält nach meiner festen Überzeugung die wunderbarsten Geschichten über die Geschichte Gottes mit den Menschen - aber eben keine Geschichtsschreibung in unserem heutigen Sinne. Sie läuft von ihren Rändern auf einen Kern zu, der in der Mitte der Schrift liegt und von dem aus sich die Schrift entfaltet: Christus, gekreuzigt und auferstanden. Die dogmatische Verkleisterung dieser Wahrheit hat mir in den letzten Jahren nicht geholfen, war sogar der Ausgangspunkt meines Zweifels. Gott mit Herz und Verstand glauben - so in etwa stelle ich mir meinen zukünftigen Glauben vor.
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Christus-Tryptichon |
Da passt der evangelikale Rettungsglaube nicht mehr hinein, der mich die letzten Jahre geprägt hat. Statt dessen glaube ich sowohl "aufgeklärt", was Schrift und Theologie angeht, als auch "kontemplativ", was die Glaubenspraxis angeht.
In einer Sache bin ich aber mittlerweile konvertiert. Man mag das als Ausdruck der Identitätskrise sehen, in die ich geraten bin. Aber es ist schon spannend, was mit mir passiert, wenn ich meine Sicht der Dinge in einem Punkt verändere, radikal verändere.
Viele wissen ja, dass ich all die letzten Jahr mal mehr, mal weniger intensiv HSV-Fan gewesen bin. Mit dem Verein habe ich viele schöne Erfahrungen gemacht (vor rund 40 Jahren), als auch viele schwere Zeit durchlitten habe (die letzten 10 Jahre). Das hat eine gewisse Entfremdung bewirkt: Soll ich mir das weiter antun? Das hartnäckige Insistieren meines 13jährigen Sohnes, der vor Jahren durch einen Kindergarten-Erzieher zum FC St.Pauli gebracht worden ist, führte mich nun in eine andere Richtung. Eine Stadionführung durch das Millerntor-Stadion konfrontierte mich nicht nur mit den äußeren Einrichtung, sondern auch mit der Philosophie des Vereins. Was ich dort wahrnahm, ist für mich attraktiv: Weltoffenheit, soziales Engagement, kommerzkritischer Fußball, Verwurzelung im Stadtteil und in der Stadt, leidenschaftlicher Einsatz gegen Menschenverachtung und konstruktiver Umgang mit gesellschaftlicher Veränderung. Dieser Verein spielt nicht nur Fußball, sondern bildet eine soziale Größe, die ganz andere Sphären der menschlichen Existenz erreicht. Fast kann man sagen, dass es sich beim FC St.Pauli um eine Weltanschauung im besten Sinne handelt. Das findet sich andernorts nur in Ansätzen. Und für mich ist das attraktiv.
Ob es dabei bleibt? Wer weiß das schon. Gedanklich kommt meine Mutter ins Spiel, die dann sagt "Häng deine Fahne nicht nur in den Wind." Auf der anderen Seite: Schiet wat up. Ich weiß nicht, wie lange ich noch lebe. Leben ist jetzt! Daher bin ich ungeniert konvertiert und kümmere mich nur am Rande um das, was andere Menschen davon halten. Der HSV ist meine Vergangenheit, auf die ich auch mit viel Freude zurückblicke, der FC St. Pauli meine Gegenwart, die ich genießen möchte.
So sei es.
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