Freitag, 15. April 2022

 

Und nun hat es mich auch erwischt.


Und nun hat es mich auch erwischt: Ich wurde positiv auf das Corona-Virus getestet. Leider hatte ich auch schon einige Symptome. Am Montagnachmittag(11.4.2022) hustete und nieste ich etwas, hatte auch Halsschmerzen, dann kam noch eine bleierne Müdigkeit. Dabei war das mein erster Arbeitstag "vor Ort". Nach Feierabend schleppte ich mich nach Hause - mit dem Auto. Zu Hause wollte ich dann nur noch schlafen, schlafen, schlafen. Vor Müdigkeit konnte ich mich kaum auf den Beinen halten.

Am nächsten Tag, also Dienstag, ging ich dann zu meiner Hausärztin. Die nahm mir einen Abstrich ab und gab mir einen Zettel für die App mit. Ab Abend könne ich da nachschauen, sonst werde sie mich am nächsten Tag anrufen. Wie fühlte ich mich an diesem Tag? Eigentlich passabel, nur eben - müde. Und Halsweh. Und ab und zu Husten und Niesen. Am Abend dann schaute ich in die Corona-Warnapp, ob mein Testergebnis da ist. Ab sooft ich schaute, sooft verkündete mir die App unschuldig: "Ihr Testergebnis liegt noch nicht vor". 

Mittwochmorgen rief mich meine Hausärztin an: "Der Test ist positiv." Mein Gedanke: "Sch..." Der Ci-Wert ließe auf ein mäßiges Ansteckungsrisiko schließen. Die App schwieg sich immer noch über das Ergebnis aus: "Nix Genaues weiß man nicht." Also Anruf bei der Onkologin meines Vertrauens. Da gab es ein Medikament namens Sotrovimab, das mir bei Covid 19 helfen soll. "Sie sind einer der Patienten, die sich nicht infizieren sollten. Ihre Transplantation ist noch nicht lange her" sagte mir Frau Doktor. Tja, ich wollte ja auch nicht unbedingt diese Krankheit mitnehmen. Aber immerhin, am Nachmittag sollte ich vorbeischauen. 

Mittwochnachmittag empfing mich meine Onkologin im klinisch reinen Anzug, mit Visier und Atemschutz, zur Infusion. Danach sollte es mir besser gehen. Klinische Studien dazu gäbe es noch nicht, bislang aber "gute Erfahrungen". Mit etwas Chance wäre ich dann schon nächste Woche mit der Infektion durch. OK, dann rein mit dem Zeug. - Was soll´s.

Am Donnerstag war mein absoluter Nulltag. Aus fiebriger Nacht aufgewacht mit hämmernden Kopfschmerzen, nur halt noch müde. Dazu Husten und Schnupfen. Und das soll Covid 19 sein? Ja, verdammt noch mal. Dann ging es langsam wieder aufwärts, wohl eine Folge des Medikaments vom Mittwoch. 

Wie sieht es jetzt aus? Tatsächlich habe ich immer noch mäßigen Husten, der aber in den Bronchien schmerzt. Ich niese ab und zu. Und mein Geschmackssinn ist beeinträchtigt, was ich auf das Anschwellen der Schleimhäute zurückführe. Ansonsten bin ich schlapp, schone mich, halte mich weitestgehend von meiner Familie fern. Gut, dass die Kopf- und Halsschmerzen weg sind. 

Dann bin ich noch glücklich, dass mir (bislang?) ein schwerer Verlauf erspart geblieben ist. Ich tue alles dafür, dass das so bleibt. Dabei hatte ich mich sehr auf dieses Ostern gefreut: Freunde endlich wiedertreffen, endlich auch wieder Osterfeuer an der Elbe - alles verweht. Statt dessen: Isolation zu Hause. Und weil ich nicht richtig schmecken kann, fällt auch das Kochen aus.

Mit etwas Glück kann ich nächste Woche bereits mit dem akuten Infekt durch sein. Der PCR-Test wird es zeigen.

Abermals wurde mir bewusst, wie fragil meine Lage ist. Das ist eigentlich das Schlimmste. Gerade dann, wenn ich denke "Oh, jetzt wird es endlich normal" passiert etwas Dummes. Seit dem Rezidiv vor einem Jahr ist meine Naivität weg und auch das Gefühl, dass ich das Myelom sozusagen unter meinen Füßen hätte. Daher besteht meine geistige Herausforderung darin, mit der fragilen oder vulnerablen Lage meines Lebens konstruktiv umzugehen. Ein paar Jährchen würde ich gerne noch diesseits des Jordans verbringen.

Das ist nur leichter gesagt und erkannt als getan.

Vor einem Jahr wäre ich darüber verzweifelt. Nicht noch eine Sache. Denn immerhin habe ich das äußerst strapaziöse Krebsjahr 2021 hinter mir gelassen, vor allem die traumatischen Erlebnisse während meiner Hochdosistherapie im UKE. Irgendwie reicht es doch. Ein Schnupfen hätte mir auch gereicht. Und nun das. Zum Glück bin ich nicht verzweifelt, sondern habe ich immer noch einen klaren Kopf - trotz aller Unsicherheit und Angst. 

Ja, und da muss ich dem Dank sagen, dem der Dank gehört: Dem Glauben. Das hatte ich kaum für möglich gehalten, dass mein neuer Glaube trägt. Wenigstens so einigermaßen. 

Ausbaufähig. Und ins Leben tragend, auch wenn das Leben schwierig ist.



Freitag, 11. März 2022

Mein Glaube ist ein Dennoch.
Dennoch glaube ich.
Dennoch hoffe ich.
Dennoch liebe ich.
Dennoch.
Dennoch
all der Zweifel,
all der Krisen,
all der Unruhe,
all der Leiden,
all des Todes.
Dennoch.
Dennoch ist ein Grund.
Dennoch hat einen Grund.
Dennoch ist der Eckstein,
den die Bauleute verworfen haben.
Dennoch ist der Knecht,
der für uns gelitten hat.
Damit Dennoch für uns
ein Dennoch ist.

Montag, 21. Februar 2022


Verschickung: Sechs Wochen „Kinderkurheim Gutermann“ in Oberstdorf 1971


Ich muss mich einem Thema widmen, das ich noch nie im Blog verarbeitet hatte. Immerhin war bisher „Krebs“ das Hauptthema. Aber es gibt noch eine andere Sache, die ich ansprechen muss. Das Thema lautet: „Verschickung“.

Verschickung war in der Zeit zwischen 1950 und 1990 ein Begriff. Seinerzeit wurden Kinder von ihren Eltern für meistens sechs Wochen ver-schickt. In aller Regel erfolgte dies auf Anraten eines Kinderarztes und in Abstimmung mit einer Krankenkasse, die für die Kosten aufkam. 

Die Gründe für eine Verschickung waren vielfältig: Chronische Krankheiten (wir sprechen von einer Zeit, in der fast alle Eltern rauchten und die Luft draußen in den Städten voller Abgase war), Unterernährung, Überernährung, Verhaltensauffälligkeit, Entwicklungsverzögerung und andere Gründe. Bei mir war es chronische Bronchitis. Nach intensivem Drängen des Kinderarztes beschlossen meine Eltern, mich für sechs Wochen zu verschicken. Die Deutsche Angestellten-Krankenkasse (DAK), bei der meine Eltern versichert waren, empfahl einen Aufenthalt in „sauberer Gebirgsluft“ und wies mich in das „Kinderkurheim Gutermann“ in Oberstdorf ein. Anfang Januar 1971 sollte es losgehen.


Aus meiner Erinnerung:

Ich erinnere mich noch an einen Spaziergang mit meinen Eltern Anfang Januar 1971: Meine Mutter schob die Kinderkarre mit meinem jüngeren Bruder darin, mein Vater ging rechts von mir und ich in der Mitte. Eine bleischwere Beklemmung stieg in mir auf: Bald muss ich fort. Bald bin ich ganz weit weg von hier…. Meine Tante Elke versprach mir, dass sie mir einen schönen Zitronenkuchen backt, wenn ich wieder da bin.

Bald darauf ging es los. Meine Mutter hatte meine Sachen in einen großen Koffer, in die Kleidungsstücke waren von ihr und meiner Oma kleine Stoffschildchen mit meinem Namen darauf eingenäht worden. Die Reise startete vom Bahnhof Altona. Ich erhielt ein Schild mit meinem Namen um den Hals gehängt. „Damit du nicht irgendwo verloren gehst“. Ein älteres Ehepaar nahm mich und 1-3 weitere Kinder in Empfang. Freundliche Leute. Wir nahmen in einem Abteil Platz – und dann ging die Fahrt auch schon los. Davon habe ich nur noch in Erinnerung, dass ein Mädchen zwischendurch eine Burg erspäht hatte. Das war für uns spannend. Wir kam am späten Abend in Oberstdorf an und ich kann mich gut erinnern, wie es als Abendmahlzeit für uns Hühnersuppe gab. Die war sogar richtig gut.

Ab da kann ich meine Erinnerung nicht mehr chronologisch ordnen. Es sind Bruchstücke aus sechs Wochen. Ich war fünf Jahre alt, als ich ankam – und beging dort meinen sechsten Geburtstag. Lesen und Schreiben konnte ich noch nicht, nur ein paar Wörter wie meinen Vor- und Nachnamen konnte ich identifizieren.


Die Bruchstücke


Ziemlich am Anfang der Zeit. Wir gehen in einer größeren Gruppe von Kindern durch die verschneiten Wälder rings um unser Heim. An einer Stelle finden wir große hölzerne Behältnisse. „Das ist für die Rehe und Hirsche, damit sie im Winter etwas zu Fressen finden.“ In der Ferne sehen wir die Sonne, die das Nebelhorn (den Oberstdorfer Hausberg) rötlich färbt. 


Meine „Tante“ stellt sich vor: Frau H.. Sie wird sich in den nächsten Wochen um mich kümmern. Ich freue mich, denn so wie sie heißt auch der Polizist in meiner Lieblingsserie „Polizeifunk ruft“.  Aber Frau H, ist alles andere als eine Freude. „Setz dich mal richtig hin! Schau freundlich! Sei still! Iss den Teller ganz auf!“ Sie hat für mich (und die anderen) nur Befehle. Alle Frauen, die sich um uns Kinder kümmern, heißen hier  "Tanten". Wir Kinder nennen sie allerdings "Wärterinnen".


Frühstück im Speiseraum. Ich bekomme Haferschleim oder -brei, ungesüßt. Der schmeckt einfach scheußlich. Ich würge ihn herunter. Hartmann: „Kau gefälligst!“ Was gibt es dazu zu trinken? Warme Milch mit Haut obendrauf. Die Hautstückchen müssen mitgetrunken werden. Am Tisch hinter mir erbricht sich ein Mädchen ins Essen. Helle Aufregung. Die dort Dienst habende „Tante“ fängt an zu schimpfen, das Mädchen ist verschüchtert und fängt an zu weinen. Der Tisch wird gereinigt und das Mädchen wird angeherrscht, jetzt den Rest der Portion aufzuessen. Ob das Erbrochene da noch drin war? Als die Kinder an meinen Tisch fertig sind und wir aufstehen, sitzt das Mädchen immer noch vor dem Teller. So lange sie den Teller nicht aufisst, darf sie nicht nach draußen zum Spielen. Sie sitzt dann allein im Speiseraum.


Das Gebet. Auch an diesem Ort darf das fromme Gebet nicht vernachlässigt werden. „Komm Herr Jesus und sei unser Gast, segne, was du uns bescheret hast.“ Wer dabei Faxen macht, bekommt Spielverbot.


Mittagsschlaf. Den kenne ich nicht, zuhause halte ich keinen Mittagsschlaf. Hier im „Kinderkurheim Gutermann“ ist er aber angeordnet. Also geht es ab in die Zimmer zum Mittagsschlaf. Ich liege in meinem Bett (Doppelstockbett unten) und warte. Da öffnet sich die Tür und eine der „Tanten“ schaut rein. Sofort schließe ich die Augen. Denn die „Tante“ kontrolliert, ob die Kinder auch wirklich schlafen. Wer es nicht tut, den erwartet eine Strafe. Ein Junge meldet sich vorsichtig: „Ich muss auf Klo“. Die „Tante“ sagt: „Das hättest du früher erledigen können, jetzt ist Mittagsschlaf!“ Beim Wecken am Nachmittag ist sein Bettlaken nass.


Eines Morgens. Ich erwache nach einem Traum am Morgen. Im Traum habe ich bei meiner Tante Inge im Garten gespielt. Dort muss ich dringend auf Klo. Ich erleichtere mich ins Gebüsch. Beim Erwachen stellt sich heraus, dass ich ins Bett gemacht habe. Der Schlafanzug, das Bettlaken und die Decke sind nass. Die „Tante“ Frau H. erscheint, reißt mich aus dem Bett und fängt an zu schimpfen. Dann soll ich das Laken abziehen, was ich auch mache. Sie hält das Laken hoch und verkündet: „Schaut mal alle her! Der Stefan hat ins Bett gemacht. Lacht ihn aus!“ Die anderen Jungs im Zimmer schauen mich an und lachen. Sie lachen mich aus.


Nachts. Ich verspüre einen Drang, auf Toilette zu gehen. Die Toilette ist im Flur unten. Vorsichtig schleiche ich mich einen dunklen Gang entlang. Am Ende des Ganges ist die Treppe nach unten. Als ich auf der Treppe bin, höre ich eine der „Tanten“ kommen. Wie ein Blitz haste ich zurück ins Zimmer. Auf Toilette zu gehen ist strengstens verboten. „Das hättest du vorher erledigen können.“ Also versuche ich wieder zu schlafen. Am nächsten Morgen ist mein Laken nass.


Wieder Frühstück. Ich esse die bereit liegenden Marmeladenbrote. Ein Mädchen am Tisch sagt zu „Tante“ Frau H.: „Schau mal. Der Stefan isst nur Marmeladenbrot.“ Neben den Marmeladenbroten liegen noch Honigbrote. Und ich hasse den Geschmack und den Geruch von Honig. Beides löst bei mir reinsten Ekel aus. „Tante“ Frau H. bellt mich an: „Du nimmst jetzt Honigbrot!“ Ich: „Das mag ich aber nicht.“ Darauf die "Tante" H.: „Du isst jetzt Honigbrot!!!“ Eingeschüchtert nehme ich das Brot mit Honig und würge es hinunter. 


Mittagessen. Nach der Sitte im Hause meiner Eltern beginne ich, die Kartoffeln mit einer Gabel kleinzudrücken. „Musen“ nennen wir das in Hamburg. „Tante“ Frau H. sieht das und fährt mich an: „Der liebe Gott hat dir Zähne zum Kauen gegeben. Das hört jetzt sofort auf!“


Vormittag. Viele Kinder spielen am Rodelberg. Das kenne ich so aus Hamburg nicht. Es liegt richtig viel Schnee und es ist ein richtiger Berg hinter dem Haus. „Bahn frei, Kartoffelbrei“ wird gerufen. Ich bekomme einen Schlitten zu fassen, erklimme den kleinen Berg und sause herunter. Das macht richtig Spaß, also nochmal das Ganze. Leider erwartet mich unten „Tante“ Frau H. und zerrt mich weg. „Du kommst sofort mit! Keine Widerrede!“ Sie hat schlechte Laune, sogar sehr schlechte Laune. Statt den Rodelberg herunterzurodeln muss ich mit „Tante“ Frau H. und ein paar anderen Kindern dem Ort Oberstdorf einen Besuch abstatten. Eine weitere „Tante“ ist mit dabei.


Krankenzimmer. Ich bin krank geworden und habe Fieber. So komme ich ins Krankenzimmer. Was für eine Erleichterung. Weit weg von „Tante“ Frau H.. Hier kümmert sich eine jüngere „Tante“ um die zwei, drei kranken Kinder. Im Krankenzimmer begehe ich auch meinen sechsten Geburtstag. Beim Erwachen stehen da drei „Tanten“ an meinem Bett und singen mir ein schönes Geburtstagslied. Meine Eltern haben mir ein Paket geschickt mit Spielsachen und Süßigkeiten. Die Süßigkeiten darf ich nicht behalten und mit den Spielsachen spiele ich dann. Ich freue mich sehr darüber, einen Gruß von zuhause zu erhalten. Später werden mir die Spielsachen weggenommen - ich erhalte sie auch nicht mehr zurück. Sie wandern in den Fundus des Heims.


Karten schreiben. Natürlich müssen meine Eltern und Großeltern wissen, wie es mir geht. Also setzt sich „Tante“ Frau H. mit mir hin und schreibt Karten. Da ich nicht schreiben kann, übernimmt sie das Schreiben. Ich soll sagen, was ich so erlebe in Oberstdorf. „Aber du sagst nur das Schöne. Das andere wollen deine Eltern nicht wissen.“ Also lasse ich schreiben, wie schön es in Oberstdorf ist, wie viel Schnee da liegt und wie sehr ich das Essen mag. Lauter Nichtigkeiten also. Von dem allgegenwärtigen Heimweh kein Wort. Von dem allgegenwärtigen Zwang kein Wort.


Abends. Uns wird eine Geschichte im Speisesaal vorgelesen. „Das kleine Gespenst“ oder so… „Tante“ Frau H. liest. Ich sitze auf einem hölzernen Stuhl. Dieser Stuhl knarzt, wenn man sich bewegt. Ich bewege mich. Daraufhin sagt „Tante“ Frau H.: „Wehe, du machst das noch einmal. Dann musst du dich hinstellen.“ Kurze Zeit später knarzt der Stuhl erneut. Also muss ich stehen. Ich bin auch nicht das einzige Kind, das stehen muss. Bei anderen ist das ähnlich passiert. Mit der Zeit beginne ich, mich allmählich auf den Fußboden zu setzen. Dem setzt „Tante“ Frau H. direkt etwas entgegen: „Stell dich hinter oder es passiert etwas!“. Also stehe ich wieder, obwohl ich so müde bin, dass ich mich kaum auf den Beinen halten kann.


Oliver. Oft sitzt ein Junge, so alt wie ich, nach dem Frühstück vor dem großen Fenster des Speiseraums. Er heißt Oliver. Warum sitzt er da? „Tante“ Frau H. sagt: „Der guckt sich Oberstdorf von oben an.“ Ganz still sitzt er da mit sehr verschlossener Miene. Manchmal stützt er seinen Kopf auf der Fensterbank auf. Er darf nicht angesprochen werden, das haben die „Tanten“ verboten. Irgendwann stehe ich mal neben ihm. Ich frage: „Warum sitzt du nach den Frühstück immer vor dem Fenster und guckst dir Oberstdorf an?“ Er antwortet: „Weil ich beim Frühstück gezappelt habe. Ich darf nicht mitspielen, ich muss am Fenster sitzen, hat „Tante“ N.N. gesagt.“ Er wird also bestraft. Gezappelt beim Frühstück.


Die „Tanten“. Wir nennen die Frauen, die uns betreuen, übrigens nicht „Tanten“. Wir sagen „Wärterinnen“. Das trifft es auch besser. Die meisten von ihnen behandeln uns Kinder wie Gefängniswärter alter Zeiten die Gefangenen. Wir Kinder haben keinen eigenen Willen mehr zu haben. In allem herrscht das Regiment dieser „Tanten“.
„Ich habe solches Heimweh.“ – „Stell dich nicht so an.“
„Ich will jetzt aber spielen.“ – „Wenn du nicht mitkommst, darfst du nie wieder nach Hause.“
„Ich habe keinen Hunger.“ – „Du bleibst hier so lange sitzen, bis du aufgegessen hast.“
„Ich weine.“ – „Hör sofort mit der Flennerei auf.“
Warum gehorchen wir ihnen? Weil wir Kinder sind. Wir sind weit weg von unseren Eltern, von unseren Geschwistern, von unseren Großeltern, von unseren Freunden. Allein unter „Tanten“. Weglaufen können wir nicht. Ungehorsam wird drakonisch bestraft. Ich erinnere mich namentlich nur an drei von ihnen: Die alte Frau Gutermann, die ich nur selten zu Gesicht bekomme. Ihre Tochter, Fräulein Gutermann, die mal nett und aber sehr oft unerträglich war. Und dann natürlich Frau H., die launisch und unsympathisch ist. Dann sind da noch andere „Tanten“, die uns ebenfalls mit harter Hand durch diese sechs Wochen führen. Nur eine einzige „Tante“ ist immer nett, zu der wollen alle Kinder. Sie ist auch deutlich jünger (heute vermute ich, dass sie etwa 20 Jahre und darunter
gewesen sein muss). Freundlichkeit, Empathie – dies und anderes findet man auf Seiten der „Tanten“ selten bis nie.


Das Paradoxon. Ich hatte das Toilettengehverbot bereits angesprochen. Zu bestimmten Zeiten war es verboten, auf Toilette zu gehen. Dies betraf vor allem die Bettzeiten mittags und nachts. Wir tranken also zur Mahlzeit unsere Milch oder Tee. Wenn wir vor dem Schlafengehen dann nicht zur Toilette konnten, mussten wir bis zum Ende der Bettzeit warten. Das ging halt bei manchen, wie bei mir, daneben. Selbstverständlich war auch Einnässen des Bettes verboten, es kam nur eben recht oft vor, dass wir Kinder die Betten besudelten. Der naheliegende Schluss, dass zwischen Toilettenverbot und Einnässen des Bettes ein kausaler Zusammenhang besteht, wurde seitens der „Tanten“ offensichtlich nicht gezogen. Wir mussten also mit diesem Paradoxon leben.


Das Gute. Es gab auch Gutes in Oberstdorf: Die Landschaft drumherum war für mich atemberaubend schön. Viele Berge, was mir als Hamburger vollkommen unbekannt war. Schnee in Hülle und Fülle, wo bei uns nur etwas fiel, lag der Schnee im Allgäu eben meterhoch. Der Rodelberg, von dem man sich auf dem Schlitten abwärts stürzen konnte. Eine Faschingsfeier, bei der ich das von mir gewünschte Kostüm als „Prinz“ mit einem Schwert an der Seite anziehen durfte. Und die eine junge „Tante“, die einfach lieb war.


Reflexion


Ich kann hier natürlich nicht alles schreiben, was im „Kinderkurheim Gutermann“ zwischen Januar und Februar 1971 passiert ist. Ich weiß auch, dass Erinnerungen trügerisch sind und sich selbst Erlebtes und von anderen Erzähltes mischen können. Aber ich habe eigentlich einen positiven Blick auf meine Kindheit – bis auf die Zeit in Oberstdorf. Das war für mich eine Hölle aus Heimweh, Angst, Demütigungen, willkürlicher Bestrafung und Ausgeliefertsein an nicht wohlwollende Fremde.

Nein, ich wurde hier nie geschlagen. Mir ist auch nicht bekannt, dass jemand von uns geschlagen worden ist. Wir wurden meines Wissens auch nicht in einen dunklen Keller gesperrt. Aber wir wurden gedemütigt, hart bestraft und einfach mies behandelt. Wir durften unsere Spielsachen nicht behalten, die wurden uns abgenommen und wir bekamen am Ende auch nicht alle zurück. Die „Tanten“ brannten Schneisen der Verwüstung in unsere Seelen, es kümmerte sie herzlich wenig. Die Leiterin des Heimes, Frau Gutermann, wurde für ihren „selbstlosen“ Einsatz im Ort gelobt. Für uns war sie die Hauptaufseherin der Kinderhölle. 

Ich trage es der Familie Gutermann nicht nach, dass ihr Kurheim für viele Kinder eine Hölle war. Sie wussten es nicht anders, sie waren Gefangene ihrer Zeit, so wie ich auch. Als Qualifikation für den Betrieb eines „Kinderkurheims“ brachte Herr Gutermann, der vor 1971 bereits verstorben war, die Tätigkeit als Landwirt mit. Frau Gutermann war Korbflechterin. Sie haben ihre eigenen Kinder großgezogen, das hat wohl ausgereicht. Jedoch begreife ich bis heute nicht, dass die seinerzeitigen Verantwortungsträger wie die „Deutsche Angestellten-Krankenkasse“ (DAK) nicht genauer hingesehen haben, an wen sie die Kinder verschicken. Nichts gegen Landwirte und Korbflechter mit eigenen Kindern – aber etwas mehr Expertise braucht es doch, um fremde Kinder zu betreuen. In dieser Zeit der Jahre 1950 bis 1980 haben Kinder nicht viel gezählt, man hat sie einen drakonischen Regiment unterworfen, das auf kindliche Befindlichkeiten keine Rücksicht genommen hat. Das war auch meinem Kinderarzt bewusst, der vor allem meine Mutter massiv unter Druck gesetzt hat, mich in die Verschickung zu bringen.

Das ganze System war krank und brachte folgerichtig Menschen wie „Tante“ Frau H. hervor, die ihre Machtposition dafür nutzte, den Willen von Kindern mit psychischem Druck zu brechen. So sehr ich heute keinen Groll gegen die Familie Gutermann mehr habe, so sehr ist in mir immer noch der tiefe Groll gegen diese eine Frau, die große Teile meiner Kindheit zerstört hat.

Was habe ich übrig behalten von dieser Zeit? Bis zum Januar 1971 hatte ich eine ganz normale Kindheit und war ein zwar ruhiges, aber aufgeschlossenes Kind. Ja, die Freude war groß, als ich wieder im Hause war. Meine Eltern haben mir ein Fahrrad geschenkt und ich erinnere mich noch ganz genau, wo sie es hingestellt hatten. Meine Tante Elke hatte mir überdies den versprochenen Zitronenkuchen gebacken. Aber ich war seit Oberstdorf verschlossen und misstrauisch geworden. Mir fiel es schwer, zu anderen Menschen Vertrauen zu entwickeln und aufzubauen. Das betraf auch Gleichaltrige. Ich entwickelte mich in der Schulzeit daher zum Außenseiter und wurde so zur Zielscheibe von Mobbing durch Mitschüler. 

Und was ist aus der chronischen Bronchitis geworden? Die soll sich gebessert haben, sagte man mir.

Meine Mutter meinte später zu mir, dass sie mich nie weggeschickt hätte, wenn sie all das gewusst hätte, was mir in Oberstdorf widerfahren ist. Ein Gutes hatte das alles: Meinem jüngeren Bruder, bei dem auch eine Verschickung angeraten worden war, blieb das erspart.

Immerhin.


https://www.briefmarken.cc/oberstdorf-privat-kinderkurheim-gutermann?a=276354

Das „Kinderkurheim Gutermann“…. Im Schnee, wie ich es im Januar und Februar 1971 erlebt habe.


https://www.ansichtskarten-center.de/oberallgaeu-lkr/oberstdorf/oberstdorf-oberstdorf-kinderkurheim-gutermann-allgaeu-anatswald-3021475

Unter der kleinen „Turmspitze“ lag der Speiseraum. Vorne rechts neben dem Eingang muss das Krankenzimmer gewesen sein. Im ersten Stock dann die Kinderschlafzimmer.


https://www.briefmarken.cc/oberstdorf-kinderkurheim-gutermann?a=276355

Vorne im ersten Stock war eine kleine Turnhalle. Dahinter die Fenster auf der rechten Seite des 1. Stockwerks: Das erste Fenster war mein Schlafzimmer.


PS: Um die Persönlichkeitsrechte zu wahren, habe ich den Namen der "Tante" abgekürzt.


Mittwoch, 2. Februar 2022

 

Nachgedacht im Februar

Aus der Reha in Ratzeburg bin ich nun seit etwa zwei Wochen wieder zurück. Es war diesmal doch anders als vor vier Jahren. Das hing nicht nur mit den Corona-Schutzmaßnahmen zusammen, die in der Reha-Klinik allgegenwärtig waren. Es war auch meine Erfahrung, die den Ton bestimmte. Die Erfahrung des Rezidivs. Während ich vor vier Jahren nach überstandenen Therapien und Remission voller Optimismus war, hatte sich diesmal die Erfahrung eingestellt, dass nach der Remission vor dem Rezidiv ist. Zum Glück konnte ich diesen Gedanken in den während der Reha in den Hintergrund schieben. Aber ganz verschwunden ist der Gedanke halt nicht, er begleitet mich wie ein dumpfer Mollton die ganze Zeit.

Dazu kam und kommt noch die allgemeine Situation mit der Corona-Pandemie. Leider habe ich noch während meines Krankenhaus-Aufenthalts die Information erhalten, dass infolge der Hochdosistherapie mein Immunsystem vollkommen neu ist. Das heißt auch, dass alle Impfungen hinüber sind. Das war für mich neu, bei der letzten Hochdosistherapie 2017 hatte mir das niemand gesagt. In der Konsequenz heißt das, dass auch meine Corona-Impfungen wohl sämtlich zweifelhaft sind. Kurz vor meinem Krankenhausaufenthalt hatte ich mich boostern lassen. Ärztlich gibt es keine verlässliche Aussage, was eine Infektion mit dem Virus bei mir ausrichten würde. Damit muss ich erstmal klarkommen. Daher befinde ich mich in einer Art selbstgewählter Quarantäne.

Immerhin hat mir meine Onkologin ein Medikament in Aussicht gestellt, dass einen "milden" Verlauf herbeiführen soll für den Fall, dass ich mich infiziert habe. Ob es wirkt? 

Aber die Hauptschwierigkeit bereitet mir eindeutig die Furcht vor dem Rezidiv. Dabei sind alle meine Werte gut. Die Proteinwerte ("Leichtketten", das Indiz für das Myelom) sind super. Die Blutwerte sind normal. Nur der Zweifel nagt in mir: "Und wenn das alles trotzdem....?" Und oft ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass ich andere Menschen wegen ihrer sichtbaren Gesundheit beneide. 

Der Körper mag im Moment brauchbar sein, die Psyche kommt nicht so richtig hinterher. Und wenn es doch nicht nur die Psyche ist...?

Gelingt mich abzulenken? Ja, das geht auch. Bewegung ist eine sehr gute Idee, ein gutes Buch lesen auch und etwas Gedankenanregendes im Fernsehen oder im Internet zu sehen ebenfalls. Denn mein Leben besteht nicht nur aus dem Myelom.

Denke ich an mein Leben vor der Krankheit, drängen sich viele Fragen auf. Aber ich schiebe sie beiseite: Dieses Leben ist Vergangenheit und vieles davon habe ich beiseite gelegt. Auch das Morgen verliert bei mir an Bedeutung. Was weiß ich, was in X Jahren ist? Viel wichtiger ist mir, was heute, jetzt und hier ist. Was macht mir Freude? Womit fühle ich mich wohl? Ich habe meine Leidenschaft für den HSV abgelegt. Ich habe mein evangelikales Leben beendet. Ich habe meine politischen Prioritäten überdacht. Das ist alles Vergangenheit, erlederitzt, perdu, abgeschlossen und den Schlüssel weggeworfen. 

Es zählt das Jetzt, es zählt der Mensch, der vor mir ist. Das bedeutet für mich: Ein Glaube, der in die Weite führt und sich nicht in ausgetretenen Bahnen einer rechtgläubigen Dogmatik einengen lässt. Eine Fußballleidenschaft, die die gesellschaftliche Dimension berücksichtigt (deshalb der FC St. Pauli). Eine politische Schwerpunktsetzung, die den einzelnen Menschen in einer solidarischen Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt. Das ist alles für mich neu und ungewohnt. Aber es geht nicht mehr anders. Das Leben ist Wandel - und bei mir hat die Krankheit diesen Wandel beschleunigt. Wandel ist Normalität - und ich lerne, ihn zu akzeptieren.


Und offen gestanden:

Früher stand ich politisch weit rechts. Am schlimmsten war für mich die Vorstellung, dass mein geliebtes deutsches Vaterland im Ansturm fremder Menschen untergehen würde. Deutschsein war für mich ein Überlegenheitsgefühl, "der" Deutsche schlechthin war durch sein deutsches Wesen anderen Kulturen und Völkern per se überlegen - und dennoch bedroht. Schwarzafrikaner, Balkanvölker, Türken, Araber waren für mich minderwertig. Ich dachte für mich konservativ: Die alten deutschen Tugenden sollten es für uns hier richten. 

Was für ein Irrweg.

Durch meine Begegnung mit dem christlichen Glauben hatte ich die meisten dieser Punkte schon aus meinen Überzeugungen getilgt. Aber es blieb dennoch jahrelang ein Kampf und die Versuchung war stets präsent: Kann man nicht auch national denkender Deutscher und gleichzeitig guter Christ sein? Das Aufkommen der "AfD" in den 2010er Jahren hat mich neu herausgefordert. Nein, beigetreten bin ich dieser Partei nie, das stand auch nie zur Debatte. Aber den Aufstieg dieser Partei habe ich mit Genugtuung und Wohlwollen begleitet.

Ab damit in den Orkus. 

Betrachte ich meinen politischen Werdegang in den letzten zwei Jahren, so stelle ich fest, dass ich mich sukzessive von den alten Überzeugungen gelöst habe. Es hat sich gewandelt, was ich denke. Ja, ich schäme mich auch dafür, in menschenfeindlichen und rassistischen Kategorien gedacht zu haben. Ich ärgere mich darüber, eine Weltanschauung aus Ängsten und Aggression vertreten zu haben. Und ich bin wütend über mich selbst, früher (in den 90er Jahren) keinen klaren Trennungsstrich zu Nazismus (den ich nie vertreten, aber geduldet habe) und sonstige Menschenfeindlichkeit gezogen zu haben. 

Was folgt daraus?

Meine Kinder will ich freies, selbstständiges und kritisches Denken vermitteln. Damit sie nicht wie ich in die Falle tappen, die angst- und ressentimentgetriebenes Denken aufstellt. Es freut mich jedenfalls, dass mein 14jähriger Sohn früher als ich begriffen hat, dass Rassismus keine Option ist. Er war es auch, der mich zum FC St. Pauli gebracht hat.

Ich bin daher nicht mehr rechts. 

Ich bin - wenn man so will - gleichzeitig konservativ und progressiv. Evangelischer Christ mit orthodoxem und buddhistischem Einfluss. Hamburger, Deutscher, Europäer, Weltbürger. Pragmatisch und auch liberal.

Es ist immer eine Frage, worum es gerade geht.


"Unwissenheit führt zu Angst. Angst führt zu Hass, und Hass führt zu Gewalt. Das ist eine einfache Gleichung." - Ibn Rushd (Averroes), andalusisch-muslimischer Philosoph und Arzt, 1126-1198