Nachgedacht im Februar
Aus der Reha in Ratzeburg bin ich nun seit etwa zwei Wochen wieder zurück. Es war diesmal doch anders als vor vier Jahren. Das hing nicht nur mit den Corona-Schutzmaßnahmen zusammen, die in der Reha-Klinik allgegenwärtig waren. Es war auch meine Erfahrung, die den Ton bestimmte. Die Erfahrung des Rezidivs. Während ich vor vier Jahren nach überstandenen Therapien und Remission voller Optimismus war, hatte sich diesmal die Erfahrung eingestellt, dass nach der Remission vor dem Rezidiv ist. Zum Glück konnte ich diesen Gedanken in den während der Reha in den Hintergrund schieben. Aber ganz verschwunden ist der Gedanke halt nicht, er begleitet mich wie ein dumpfer Mollton die ganze Zeit.
Dazu kam und kommt noch die allgemeine Situation mit der Corona-Pandemie. Leider habe ich noch während meines Krankenhaus-Aufenthalts die Information erhalten, dass infolge der Hochdosistherapie mein Immunsystem vollkommen neu ist. Das heißt auch, dass alle Impfungen hinüber sind. Das war für mich neu, bei der letzten Hochdosistherapie 2017 hatte mir das niemand gesagt. In der Konsequenz heißt das, dass auch meine Corona-Impfungen wohl sämtlich zweifelhaft sind. Kurz vor meinem Krankenhausaufenthalt hatte ich mich boostern lassen. Ärztlich gibt es keine verlässliche Aussage, was eine Infektion mit dem Virus bei mir ausrichten würde. Damit muss ich erstmal klarkommen. Daher befinde ich mich in einer Art selbstgewählter Quarantäne.
Immerhin hat mir meine Onkologin ein Medikament in Aussicht gestellt, dass einen "milden" Verlauf herbeiführen soll für den Fall, dass ich mich infiziert habe. Ob es wirkt?
Aber die Hauptschwierigkeit bereitet mir eindeutig die Furcht vor dem Rezidiv. Dabei sind alle meine Werte gut. Die Proteinwerte ("Leichtketten", das Indiz für das Myelom) sind super. Die Blutwerte sind normal. Nur der Zweifel nagt in mir: "Und wenn das alles trotzdem....?" Und oft ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass ich andere Menschen wegen ihrer sichtbaren Gesundheit beneide.
Der Körper mag im Moment brauchbar sein, die Psyche kommt nicht so richtig hinterher. Und wenn es doch nicht nur die Psyche ist...?
Gelingt mich abzulenken? Ja, das geht auch. Bewegung ist eine sehr gute Idee, ein gutes Buch lesen auch und etwas Gedankenanregendes im Fernsehen oder im Internet zu sehen ebenfalls. Denn mein Leben besteht nicht nur aus dem Myelom.
Denke ich an mein Leben vor der Krankheit, drängen sich viele Fragen auf. Aber ich schiebe sie beiseite: Dieses Leben ist Vergangenheit und vieles davon habe ich beiseite gelegt. Auch das Morgen verliert bei mir an Bedeutung. Was weiß ich, was in X Jahren ist? Viel wichtiger ist mir, was heute, jetzt und hier ist. Was macht mir Freude? Womit fühle ich mich wohl? Ich habe meine Leidenschaft für den HSV abgelegt. Ich habe mein evangelikales Leben beendet. Ich habe meine politischen Prioritäten überdacht. Das ist alles Vergangenheit, erlederitzt, perdu, abgeschlossen und den Schlüssel weggeworfen.
Es zählt das Jetzt, es zählt der Mensch, der vor mir ist. Das bedeutet für mich: Ein Glaube, der in die Weite führt und sich nicht in ausgetretenen Bahnen einer rechtgläubigen Dogmatik einengen lässt. Eine Fußballleidenschaft, die die gesellschaftliche Dimension berücksichtigt (deshalb der FC St. Pauli). Eine politische Schwerpunktsetzung, die den einzelnen Menschen in einer solidarischen Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt. Das ist alles für mich neu und ungewohnt. Aber es geht nicht mehr anders. Das Leben ist Wandel - und bei mir hat die Krankheit diesen Wandel beschleunigt. Wandel ist Normalität - und ich lerne, ihn zu akzeptieren.
Und offen gestanden:
Früher stand ich politisch weit rechts. Am schlimmsten war für mich die Vorstellung, dass mein geliebtes deutsches Vaterland im Ansturm fremder Menschen untergehen würde. Deutschsein war für mich ein Überlegenheitsgefühl, "der" Deutsche schlechthin war durch sein deutsches Wesen anderen Kulturen und Völkern per se überlegen - und dennoch bedroht. Schwarzafrikaner, Balkanvölker, Türken, Araber waren für mich minderwertig. Ich dachte für mich konservativ: Die alten deutschen Tugenden sollten es für uns hier richten.
Was für ein Irrweg.
Durch meine Begegnung mit dem christlichen Glauben hatte ich die meisten dieser Punkte schon aus meinen Überzeugungen getilgt. Aber es blieb dennoch jahrelang ein Kampf und die Versuchung war stets präsent: Kann man nicht auch national denkender Deutscher und gleichzeitig guter Christ sein? Das Aufkommen der "AfD" in den 2010er Jahren hat mich neu herausgefordert. Nein, beigetreten bin ich dieser Partei nie, das stand auch nie zur Debatte. Aber den Aufstieg dieser Partei habe ich mit Genugtuung und Wohlwollen begleitet.
Ab damit in den Orkus.
Betrachte ich meinen politischen Werdegang in den letzten zwei Jahren, so stelle ich fest, dass ich mich sukzessive von den alten Überzeugungen gelöst habe. Es hat sich gewandelt, was ich denke. Ja, ich schäme mich auch dafür, in menschenfeindlichen und rassistischen Kategorien gedacht zu haben. Ich ärgere mich darüber, eine Weltanschauung aus Ängsten und Aggression vertreten zu haben. Und ich bin wütend über mich selbst, früher (in den 90er Jahren) keinen klaren Trennungsstrich zu Nazismus (den ich nie vertreten, aber geduldet habe) und sonstige Menschenfeindlichkeit gezogen zu haben.
Was folgt daraus?
Meine Kinder will ich freies, selbstständiges und kritisches Denken vermitteln. Damit sie nicht wie ich in die Falle tappen, die angst- und ressentimentgetriebenes Denken aufstellt. Es freut mich jedenfalls, dass mein 14jähriger Sohn früher als ich begriffen hat, dass Rassismus keine Option ist. Er war es auch, der mich zum FC St. Pauli gebracht hat.
Ich bin daher nicht mehr rechts.
Ich bin - wenn man so will - gleichzeitig konservativ und progressiv. Evangelischer Christ mit orthodoxem und buddhistischem Einfluss. Hamburger, Deutscher, Europäer, Weltbürger. Pragmatisch und auch liberal.
Es ist immer eine Frage, worum es gerade geht.
"Unwissenheit führt zu Angst. Angst führt zu Hass, und Hass führt zu Gewalt. Das ist eine einfache Gleichung." - Ibn Rushd (Averroes), andalusisch-muslimischer Philosoph und Arzt, 1126-1198
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