Tag 8/3
Die Einleitungsphase ist nun deutlich in ihrer zweiten
Hälfte angekommen. Im dritten Zyklus habe ich noch eine Infusion vor mir. Dann
folgt bis Mitte April noch der vierte Zyklus, der ebenfalls zwei Infusionen
haben wird.
Ab Mitte April dann: Mal sehen. Dann kommt irgendwann die
Hochdosistherapie mit Stammzelltransplantation. Dann wird es sportlich.
Neulich wurde ich gefragt, wie denn so ein
Chemotherapie-Raum aussieht. Also: Genauso wie auf dem Bild. Unspektakulär,
nüchtern, vielleicht auch leicht abweisend.
Struktur
Das ist für mich ein Experiment: Die Rückkehr in den Alltag.
Jedenfalls habe ich festgestellt, dass mir ein stark
strukturierter Alltag Halt und Mut gibt. Und deshalb bin ich diese Woche wieder
regelmäßig zur Arbeit gegangen. Warum auch nicht? Am Dienstag musste ich mich
sogar regelrecht daran erinnern, dass ich schwerkrank bin, so gut fühlte ich
mich. Aber am Mittwoch hatte ich den Eindruck, als wenn die ganze Zeit jemand
in meinem Kopf herumtrampelt und ihn mal nach links und mal nach rechts drückt.
Seither ist wieder weitgehend Nebenwirkungsruhe, d.h. es ist erträglich.
Ich konnte sogar Auto fahren. Das spart unheimlich viel
Zeit. Den ersten Gang kann ich noch nicht mit rechts einlegen, das führt
unweigerlich zu starken Schmerzen im Oberarm. Aber die linke Hand kann
unterstützen (ich nutze den ersten Gang nur zum Anfahren). Die Sitzposition
habe ich verändert, jetzt passt alles.
Auch wenn ich lieber mit der U-Bahn unterwegs bin, so darf
ich doch wieder etwas Freiheit genießen.
Freiheit? Das heißt für mich, auch die Krankheit mal zu
vergessen.
Freiheit? Das heißt für mich, nach vorne zu denken.
Freiheit? Das heißt für mich, mir Ziele zu setzen.
Ich muss damit rechnen, dass mir die Tagesform immer ein
Bein stellt. Mal gibt es da einen Krampf, mal Kopfdruck, mal ist mir schlecht.
Der Blutdruck scheint sich zu regeln. Ich bin in diesem Alltag für alles
dankbar, was mir an kleinen guten Dingen widerfährt. Den ganz großen Wurf will
ich nicht aus dem Blickfeld verlieren. Aber jeder Tag ist neu.
Ich lerne, auch in ganz kleinen Abschnitten zu leben.
Veränderungen
Gehe ich aus der Krankheit hervor, wie ich in die Krankheit
hineingegangen bin? Die Krankheit ist ein erheblicher Einschnitt in mein Leben,
in das Leben meiner Frau, in das Leben meiner Kinder, meiner Familie, meines
Umfeldes. Da sind Veränderungen immer dabei, auch bis in die Tiefe. Ich kann
mir nicht vorstellen, dass ich dort weitermache, wo ich vor der Krankheit
gestanden habe. Aber was kommt?
Eigenartig: Ich sehe nur schattenhafte Umrisse vor mir. Der
Nebel der Zukunft verhüllt, was mir vorschwebt. So bleiben meine Vorstellungen
diffus, unsagbar, nicht zu formulieren.
Aber ich will mir Ziele setzen! Nur welche, das ist die
Frage.
Gegoogelt
Heute fiel mir beim Googeln das Thema „Lebenserwartung“ bei MM in die Hände.
Ich kann nicht behaupten, dass es mich sonderlich optimistisch gestimmt hätte.
Gerade gestern ist der Vater einer britischen Sängerin an MM gestorben, er
wurde 63 Jahre alt und hat seit fünf Jahren gegen die Krankheit gekämpft. Das
findet man, wenn man googelt. 63 Jahre, also etwa neun Jahre älter als ich.
Die Meldungen sagen nichts darüber aus, wie sich MM bei ihm
bemerkbar gemacht hat, wie heftig es war, ob er Vorschädigungen hatte und
welche Therapieformen er ausprobieren musste. Als Vater einer Prominenten
dürfte es bei ihm an Geld nicht gemangelt haben, um sich auch teure Verfahren
leisten zu können. Aber: MM ist nach meiner Einschätzung immer anders. Es kann
bei mir ganz anders sein, muss und soll ganz anders sein. Natürlich! Doc ich
spüre, dass da ein Leidensgenosse aus dem Leben genommen worden ist. Ein
Menetekel? Ach was. Oder doch?
Nichts ist selbstverständlich
Wir meinen, dass unser Leben selbstverständlich ist und dass
es immer so weitergeht. Unterhalte ich mich mit anderen über ihre
Jahresplanung, dann kommen diverse Sachen der nächsten Monate zur Sprache:
Urlaub, neues Auto, neues dies und das, Karriere, Hobbys usw.. Und ich finde
das vollkommen in Ordnung. Gerne möchte ich mitreden. Doch nun höre und sehe
ich das alles wie durch eine Glasscheibe: Bild und Ton sind gedämpft, mein
Zugang zu dieser Welt ist indirekter geworden.
Aber: Was wir heute für selbstverständlich halten, kann uns
morgen schon genommen werden.
Urlaub? Pustekuchen. Ist gestrichen.
Neues Auto? Nicht mehr zu finanzieren.
Karriere? Werde erst mal gesund.
Wie gehen wir damit um, wenn die Selbstverständlichkeiten
entfallen und der Lebensplan umgeworfen wird? „Ja, Sie haben Krebs.“ – und
alles, was selbstverständlich war, gilt nicht mehr viel.
Liebe Grüße, Alsterstewart