Tag 2/3
Der dritte Zyklus hat nun angefangen. Ich bin natürlich
gespannt, wie diese drei Wochen nun laufen werden. Der Start war wie gewohnt
gut: Kaum Schmerzen, etwas Euphorie und natürlich auch Gedanken, wie das mit
dem Blutdruck weitergeht. Dabei bin ich durchaus hoffnungsvoll, was die
generelle Veträglichkeit angeht. Das wird schon, sage ich mir. Immerhin:
Aktuell sind die Blutwerte sehr gut, was auch heißt, dass sich der Krebs
wenigstens nicht ausbreitet.
Natürlich wollte ich auch wissen, wie es nach dem vierten
Zyklus weitergeht. Aber das ist derzeit noch Nebel. Ende April / Anfang Mai
werden Stammzellen gesammelt – und dann folgt irgendwann die Hochdosistherapie.
Ein schreckliches Wort, das allerdings seinen Schrecken verliert wenn ich
darüber nachdenke, wozu diese Form der Therapie gedacht ist: Hinaus mit dem
bösen Zeug, das mich ruinieren will.
Wozu und warum?
Der Heimgarten
Über dem Ort Ohlstadt, einer kleinen Gemeinde in Oberbayern,
kurz vor Garmisch-Partenkirchen, aber noch im Alpenvorland, erhebt sich der
Berg, der „Heimgarten“ heißt. Das ist kein schneebedeckter majestätischer Berg,
sondern ein dichter Wald, über dem ein Felsengipfel thront. Der Heimgarten
trennt mit seinen knapp 1800 Metern Höhe das westlich gelegene Loisachtal, an dem
auch Ohlstadt liegt, vom östlich gelegenen Walchensee ab. Über einen Gratweg
ist der Heimgarten mit dem Herzogstand verbunden, dessen Gipfel man mit einer
Seilbahn von Kochel am See erreichen kann. Der Heimgarten ist gut zu besteigen
über Waldwege, die nach meiner Erinnerung von Ohlstadt und Eschenlohe am besten
hinaufführen.
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Der Heimgarten |
1982 war mein Heimgarten-Jahr. Meine Eltern, mein Bruder und
ich waren in Ohlstadt im Sommerurlaub. Mit uns zwei Familien: Eine
Nachbarsfamilie aus Hamburg und eine dritte Familie, ebenfalls aus Hamburg. Und
meine Mutter, mein Bruder und ich beschlossen, gemeinsam mit diesen Berg Heimgarten
zu ersteigen. Bald war eine Reisegruppe aufgetan: wir drei, der Vater eines
Freundes von mir und eine dreiköpfige Familie, die auch aus Hamburg war. So
ging es los. Lustigerweise waren Wartischs nicht mit Rucksäcken unterwegs,
sondern mit Einkaufstaschen, in denen wir den Proviant eingepackt hatten. Aber
das Schuhwerk stimmte soweit.
Zuerst ging es gemäßigt steil den Waldweg hinauf. Die Hitze
des Tages konnten wir durch den reichen Schatten der Bäume aushalten. Je weiter
wir hinaufkamen, desto kühler wurde es ohnehin.
Aber bald wurde aus dem gemäßigt steilem Aufstieg ein
richtig steiler Aufstieg. Jedenfalls in meiner Erinnerung hatten wir mitunter
Steigungswinkel von ca. 45 Grad zu bewältigen. Wir kamen immer langsamer voran,
die Pausen wurden öfter, das Luftschnappen mühsamer, das Schwitzen heftiger und
dann die Frage: Warum das alles? Sollen wir umkehren? Was nützt die Quälerei?
Dazu hatte der Vater meines Freundes, nennen wir ihn Heinz, 55 Jahre alt, ein deutliches
Kräfteproblem. Er jammerte andauern „O Gott, o Gott, o Gott – ich kann nicht
mehr, ich kann nicht mehr:“ Das korrespondierte ganz gut mit dem viergeknoteten
Taschentuch, das er sich als Kopfschutz über sein schütteres Haupthaar gelegt
hatte und dem darunter erkennnbaren hochroten Kopf. Heinz war fertig. Und aus
der dritten Familie, alles erfahrene Wanderer, wurde sich um ihn gekümmert –
großartig. „Komm Heinz, wir gehen den Weg zusammen.“
Als wir aus der Nadelwaldzone in die Zone kamen, in der auf
dem Berg nur noch Flechten und Moose wuchsen, zerstreute sich die Gruppe allmählich.
Mein Bruder Lutz erklomm im Affenzahn mühelos jede Steigung. Er war damals erst
12. Dann folgte aus der dritten Familie deren Sohn, 17 Jahre. Und mit etwas
Abstand kam ich als dritter. Weit unter mir waren die vier Erwachsenen: Meine
Mutter, Heinz und Vater und Mutter der dritten Familie.
Nach endloser Zeit wurde der Weg, der nun in Serpentinen
hinaufführte, wieder etwas flacher, zudem gab es nun noch wenige Pflanzen, es überwog nackter Fels. Über mir sah ich einen Bergrücken, der mir die Sicht auf den
Gipfel nahm. Auch ich war leicht entkräftet und wünschte mir nichts sehnlicher
als diese Wanderung endlich zu Ende zu bringen.
ABER DANN: Der Bergrücken war erstiegen – und mir eröffnete
sich ein atemberaubendes Bild. Weit unter mir konnte ich nun den Walchensee
bläulich schimmernd erblicken. Aber noch mehr: Der Blick nach Süden eröffnete
mir ein gewaltiges Alpenpanorama. Auch dies schimmerte bläulich. Eine
Fernsicht, die es in sich hatte. Die Zugspitze war gut zu erkennen, aber auch
die österreichischen Alpen. Man sagte mir später, dass sogar der Großglockner
zu erkennen gewesen sei. Ob das tatsächlich so war? Jedenfalls: Ich sah die
Alpen in ihrer Majestät. Als ich den Blick nach Norden wandte: Schau an, da
lief Lutz strebsam dem Heimgarten-Gipfel zu. Der 12jährige Junge aus Hamburg,
ohne jede Wandererfahrung, aber mit Biss und Zielorientierung. Mit einem Mal
donnerte es unter mir: Da flogen drei Kampfflugzeuge der Luftwaffe 500 Meter unter
mir durch das Walchenseetal. „Ich stehe über fliegenden Flugzeugen“ schoss es
mir durch den Kopf. Und dann berauschte ich mir nochmals am Alpenpanorama. Ich
war hin und weg, allein dafür hatten sich die Strapazen gelohnt.
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Heimgartenpanorama |
So gestärkt ging ich die sanfte Steigung zum
Heimgartengipfel. Dies war nun ein Gratweg, der an der östlichen Seite des
Bergs entlanglief. Und kaum 30 Minuten später war ich am Ziel: Der Gipfel des
Heimgartens war meiner. Lutz wartete lachend am Gipfelkreuz.
Ich jappte dennoch nach Luft. Vom Gipfel blickte ich umher:
Das Panorama war immer noch da, nun sah ich auch den benachbarten Herzogstand
mitsamt Seilbahn, darunter den Ort Kochel am See, ebenso den Walchensee und den
Kochelsee. Westlich erblickte ich Ohlstadt, von wo aus wir gestartet waren,
ebenso Eschenlohe und in Entfernung auch die Gemeinde Murnau am Staffelsee.
Selbst Garmisch-Partenkirchen war auszumachen und – in einiger Entfernung nördlich
– der Starnbergersee.
Mich interessierte dabei der Weg, den wir von Ohlstadt aus
zurückgelegt hatten. Jede kleine Steigung, jeder Baum, der auf dem Weg lag,
jedes Geröll, jeder kleine Wasserlauf, einfach alles. Fliegen umschwirrten mich
am Gipfel zu Tausenden, als mir klar wurde: Es hat sich gelohnt, hier
hochzuwandern. Es hat sich gelohnt.
Die vier Erwachsenen kamen etwa eine Viertelstunde später: Meine
Mutter, die Eltern der dritten Familie – und auch Heinz hatte es endlich
geschafft. So saßen wir bei „Skiwasser“ (so hieß die wässrige Limonade in der
Gipfelstube) und von Abertausenden Fliegen belagert, den Schweiß trocknend, die
Füße massierend, die Sonne genießend in der kühlen Gipfelluft. Wir hatten ja
noch den Rückweg.
Warum erzähle ich das?
„Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge
zum Besten dienen, denen, die nach dem Vorsatz berufen sind.“ – Römer 8:28
Viele Christen mögen diesen Vers, ich gehöre dazu. Ich lese
gerade von Timothy Keller das Buch „Gott im Leid begegnen – Walking with God
through pain and suffering“. Da kommt er ebenfalls auf eine Bergwanderung zu
sprechen und vergleicht sie mit dem Leben. Wenn wir den Gipfel erreicht haben,
übersehen wir den Weg, den wir zurückgelegt haben, erinnern uns an Strapazen
und Hindernisse und können all das in unsere Wanderung einfügen. Es hatte alles
Sinn, jetzt, da wir auf dem Gipfel stehen. Nur von unten, als wir noch auf dem Weg
waren, war der Sinn oft dunkel, verborgen, geheimnisvoll. Aber selbst in der
Verborgenheit des Sinnes, wenn Gott uns verborgen scheint, bleibt Seine Hand
stets über uns. Und die Strecke, die wir Zeit unseres Lebens gehen, wird uns erst
dann in ihrem Sinn, ihrem Gehalt, ihrem Wert klar, wenn wir oben sind: Auf dem
Gipfel.
Wir dürfen jammern wie Heinz – wenn wir Menschen auf dem Weg
haben, die uns weiterhelfen, wenn wir uns auf Gott verlassen, dann erreichen
wir das Ziel. Und wir dürfen strebsam und zielorientiert sein wie Lutz, dann verlieren
wir den Sinn unserer Wanderung nie.
Gott hat unser Leben in der Hand. Nicht mehr und nicht weniger. Und in Gott findet unser Leben seinen tieferen Sinn, seine tiefere Bedeutung und seine tiefsten Frieden.
Darum also diese Geschichte.
Alles Gute, Alsterstewart.
PS: Gerade habe ich gelernt, dass der Aufstieg zum Heimgarten im Jahre 1879 für den damals 15jährigen Richard Strauss die Inspiration für seine spätere "Alpensymphonie" gewesen ist.
PS: Gerade habe ich gelernt, dass der Aufstieg zum Heimgarten im Jahre 1879 für den damals 15jährigen Richard Strauss die Inspiration für seine spätere "Alpensymphonie" gewesen ist.
Lieber Stefan, über eines denke ich nach: Jeder, der an Jesus Christus glaubt, wird errettet. Da dürfen wir sicher sein. Aber dann gibt es noch einen Lohn. Da Gott gerecht ist, wird er schauen, wieviele Talente jemand auf Erden hatte und wie er diese genutzt hat. Natürlich auch immer nach Erkenntnis. Wenn ich für mich persönlich zurückschaue, muss ich leider sagen, daß ich bis zu meiner Erwachsenentaufe mit "Erkenntnis" nicht so reich gesegnet war.Ich denke oft an Pastor Kopfermann, der von sich selber sagte, daß er in der Bibel oft Sätze liest, die ihm völlig neu erschienen. Er hat sie bestimmt oft gelesen, aber sie haben sich bei ihm vorher nicht niedergelassen. Ich glaube, daß bei Dir in dieser Situation ganz viel Tiefe hinzukommt. Vielleicht kannst du das erst im Rückblick erst richtig wahrnehmen. Im Augenblick kämpfst du gegen einen Feind, aber der Herr hat schon jetzt beschlossen, was ER tun will und kann. Wir sind da sehr hoffnungsvoll. Deine Lehmanns
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