Samstag, 11. März 2017


Tag 2/3

Der dritte Zyklus hat nun angefangen. Ich bin natürlich gespannt, wie diese drei Wochen nun laufen werden. Der Start war wie gewohnt gut: Kaum Schmerzen, etwas Euphorie und natürlich auch Gedanken, wie das mit dem Blutdruck weitergeht. Dabei bin ich durchaus hoffnungsvoll, was die generelle Veträglichkeit angeht. Das wird schon, sage ich mir. Immerhin: Aktuell sind die Blutwerte sehr gut, was auch heißt, dass sich der Krebs wenigstens nicht ausbreitet.

Natürlich wollte ich auch wissen, wie es nach dem vierten Zyklus weitergeht. Aber das ist derzeit noch Nebel. Ende April / Anfang Mai werden Stammzellen gesammelt – und dann folgt irgendwann die Hochdosistherapie. Ein schreckliches Wort, das allerdings seinen Schrecken verliert wenn ich darüber nachdenke, wozu diese Form der Therapie gedacht ist: Hinaus mit dem bösen Zeug, das mich ruinieren will.

Wozu und warum?

Der Heimgarten

Über dem Ort Ohlstadt, einer kleinen Gemeinde in Oberbayern, kurz vor Garmisch-Partenkirchen, aber noch im Alpenvorland, erhebt sich der Berg, der „Heimgarten“ heißt. Das ist kein schneebedeckter majestätischer Berg, sondern ein dichter Wald, über dem ein Felsengipfel thront. Der Heimgarten trennt mit seinen knapp 1800 Metern Höhe das westlich gelegene Loisachtal, an dem auch Ohlstadt liegt, vom östlich gelegenen Walchensee ab. Über einen Gratweg ist der Heimgarten mit dem Herzogstand verbunden, dessen Gipfel man mit einer Seilbahn von Kochel am See erreichen kann. Der Heimgarten ist gut zu besteigen über Waldwege, die nach meiner Erinnerung von Ohlstadt und Eschenlohe am besten hinaufführen.
Der Heimgarten

1982 war mein Heimgarten-Jahr. Meine Eltern, mein Bruder und ich waren in Ohlstadt im Sommerurlaub. Mit uns zwei Familien: Eine Nachbarsfamilie aus Hamburg und eine dritte Familie, ebenfalls aus Hamburg. Und meine Mutter, mein Bruder und ich beschlossen, gemeinsam mit diesen Berg Heimgarten zu ersteigen. Bald war eine Reisegruppe aufgetan: wir drei, der Vater eines Freundes von mir und eine dreiköpfige Familie, die auch aus Hamburg war. So ging es los. Lustigerweise waren Wartischs nicht mit Rucksäcken unterwegs, sondern mit Einkaufstaschen, in denen wir den Proviant eingepackt hatten. Aber das Schuhwerk stimmte soweit.

Zuerst ging es gemäßigt steil den Waldweg hinauf. Die Hitze des Tages konnten wir durch den reichen Schatten der Bäume aushalten. Je weiter wir hinaufkamen, desto kühler wurde es ohnehin.

Aber bald wurde aus dem gemäßigt steilem Aufstieg ein richtig steiler Aufstieg. Jedenfalls in meiner Erinnerung hatten wir mitunter Steigungswinkel von ca. 45 Grad zu bewältigen. Wir kamen immer langsamer voran, die Pausen wurden öfter, das Luftschnappen mühsamer, das Schwitzen heftiger und dann die Frage: Warum das alles? Sollen wir umkehren? Was nützt die Quälerei? Dazu hatte der Vater meines Freundes, nennen wir ihn Heinz, 55 Jahre alt, ein deutliches Kräfteproblem. Er jammerte andauern „O Gott, o Gott, o Gott – ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr:“ Das korrespondierte ganz gut mit dem viergeknoteten Taschentuch, das er sich als Kopfschutz über sein schütteres Haupthaar gelegt hatte und dem darunter erkennnbaren hochroten Kopf. Heinz war fertig. Und aus der dritten Familie, alles erfahrene Wanderer, wurde sich um ihn gekümmert – großartig. „Komm Heinz, wir gehen den Weg zusammen.“

Als wir aus der Nadelwaldzone in die Zone kamen, in der auf dem Berg nur noch Flechten und Moose wuchsen, zerstreute sich die Gruppe allmählich. Mein Bruder Lutz erklomm im Affenzahn mühelos jede Steigung. Er war damals erst 12. Dann folgte aus der dritten Familie deren Sohn, 17 Jahre. Und mit etwas Abstand kam ich als dritter. Weit unter mir waren die vier Erwachsenen: Meine Mutter, Heinz und Vater und Mutter der dritten Familie.

Nach endloser Zeit wurde der Weg, der nun in Serpentinen hinaufführte, wieder etwas flacher, zudem gab es nun noch wenige Pflanzen, es überwog nackter Fels. Über mir sah ich einen Bergrücken, der mir die Sicht auf den Gipfel nahm. Auch ich war leicht entkräftet und wünschte mir nichts sehnlicher als diese Wanderung endlich zu Ende zu bringen.

ABER DANN: Der Bergrücken war erstiegen – und mir eröffnete sich ein atemberaubendes Bild. Weit unter mir konnte ich nun den Walchensee bläulich schimmernd erblicken. Aber noch mehr: Der Blick nach Süden eröffnete mir ein gewaltiges Alpenpanorama. Auch dies schimmerte bläulich. Eine Fernsicht, die es in sich hatte. Die Zugspitze war gut zu erkennen, aber auch die österreichischen Alpen. Man sagte mir später, dass sogar der Großglockner zu erkennen gewesen sei. Ob das tatsächlich so war? Jedenfalls: Ich sah die Alpen in ihrer Majestät. Als ich den Blick nach Norden wandte: Schau an, da lief Lutz strebsam dem Heimgarten-Gipfel zu. Der 12jährige Junge aus Hamburg, ohne jede Wandererfahrung, aber mit Biss und Zielorientierung. Mit einem Mal donnerte es unter mir: Da flogen drei Kampfflugzeuge der Luftwaffe 500 Meter unter mir durch das Walchenseetal. „Ich stehe über fliegenden Flugzeugen“ schoss es mir durch den Kopf. Und dann berauschte ich mir nochmals am Alpenpanorama. Ich war hin und weg, allein dafür hatten sich die Strapazen gelohnt.

Heimgartenpanorama


So gestärkt ging ich die sanfte Steigung zum Heimgartengipfel. Dies war nun ein Gratweg, der an der östlichen Seite des Bergs entlanglief. Und kaum 30 Minuten später war ich am Ziel: Der Gipfel des Heimgartens war meiner. Lutz wartete lachend am Gipfelkreuz.




Ich jappte dennoch nach Luft. Vom Gipfel blickte ich umher: Das Panorama war immer noch da, nun sah ich auch den benachbarten Herzogstand mitsamt Seilbahn, darunter den Ort Kochel am See, ebenso den Walchensee und den Kochelsee. Westlich erblickte ich Ohlstadt, von wo aus wir gestartet waren, ebenso Eschenlohe und in Entfernung auch die Gemeinde Murnau am Staffelsee. Selbst Garmisch-Partenkirchen war auszumachen und – in einiger Entfernung nördlich – der Starnbergersee.

Mich interessierte dabei der Weg, den wir von Ohlstadt aus zurückgelegt hatten. Jede kleine Steigung, jeder Baum, der auf dem Weg lag, jedes Geröll, jeder kleine Wasserlauf, einfach alles. Fliegen umschwirrten mich am Gipfel zu Tausenden, als mir klar wurde: Es hat sich gelohnt, hier hochzuwandern. Es hat sich gelohnt.

Die vier Erwachsenen kamen etwa eine Viertelstunde später: Meine Mutter, die Eltern der dritten Familie – und auch Heinz hatte es endlich geschafft. So saßen wir bei „Skiwasser“ (so hieß die wässrige Limonade in der Gipfelstube) und von Abertausenden Fliegen belagert, den Schweiß trocknend, die Füße massierend, die Sonne genießend in der kühlen Gipfelluft. Wir hatten ja noch den Rückweg.


Warum erzähle ich das?

„Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach dem Vorsatz berufen sind.“ – Römer 8:28

Viele Christen mögen diesen Vers, ich gehöre dazu. Ich lese gerade von Timothy Keller das Buch „Gott im Leid begegnen – Walking with God through pain and suffering“. Da kommt er ebenfalls auf eine Bergwanderung zu sprechen und vergleicht sie mit dem Leben. Wenn wir den Gipfel erreicht haben, übersehen wir den Weg, den wir zurückgelegt haben, erinnern uns an Strapazen und Hindernisse und können all das in unsere Wanderung einfügen. Es hatte alles Sinn, jetzt, da wir auf dem Gipfel stehen. Nur von unten, als wir noch auf dem Weg waren, war der Sinn oft dunkel, verborgen, geheimnisvoll. Aber selbst in der Verborgenheit des Sinnes, wenn Gott uns verborgen scheint, bleibt Seine Hand stets über uns. Und die Strecke, die wir Zeit unseres Lebens gehen, wird uns erst dann in ihrem Sinn, ihrem Gehalt, ihrem Wert klar, wenn wir oben sind: Auf dem Gipfel.

Wir dürfen jammern wie Heinz – wenn wir Menschen auf dem Weg haben, die uns weiterhelfen, wenn wir uns auf Gott verlassen, dann erreichen wir das Ziel. Und wir dürfen strebsam und zielorientiert sein wie Lutz, dann verlieren wir den Sinn unserer Wanderung nie.
Gott hat unser Leben in der Hand. Nicht mehr und nicht weniger. Und in Gott findet unser Leben seinen tieferen Sinn, seine tiefere Bedeutung und seine tiefsten Frieden.

Darum also diese Geschichte.

Alles Gute, Alsterstewart.

PS: Gerade habe ich gelernt, dass der Aufstieg zum Heimgarten im Jahre 1879 für den damals 15jährigen Richard Strauss die Inspiration für seine spätere "Alpensymphonie" gewesen ist.














1 Kommentar:

  1. Lieber Stefan, über eines denke ich nach: Jeder, der an Jesus Christus glaubt, wird errettet. Da dürfen wir sicher sein. Aber dann gibt es noch einen Lohn. Da Gott gerecht ist, wird er schauen, wieviele Talente jemand auf Erden hatte und wie er diese genutzt hat. Natürlich auch immer nach Erkenntnis. Wenn ich für mich persönlich zurückschaue, muss ich leider sagen, daß ich bis zu meiner Erwachsenentaufe mit "Erkenntnis" nicht so reich gesegnet war.Ich denke oft an Pastor Kopfermann, der von sich selber sagte, daß er in der Bibel oft Sätze liest, die ihm völlig neu erschienen. Er hat sie bestimmt oft gelesen, aber sie haben sich bei ihm vorher nicht niedergelassen. Ich glaube, daß bei Dir in dieser Situation ganz viel Tiefe hinzukommt. Vielleicht kannst du das erst im Rückblick erst richtig wahrnehmen. Im Augenblick kämpfst du gegen einen Feind, aber der Herr hat schon jetzt beschlossen, was ER tun will und kann. Wir sind da sehr hoffnungsvoll. Deine Lehmanns

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