Mittwoch, 18. November 2020

 

Der Sound des Herbstes und die Onkologie

Heute morgen ist es passiert: Früh um viertel vor acht schmissen die Gartenarbeiter in unserer Wohnanlage den Sound des Herbstes an. So kamen wir alle hier in den Genuss von etwa drei Laubbläsern und einer Gartenmaschine, die mit gewaltigem Sog die Blätterdecke auf den Rasenflächen in ihr Inneres beförderte. Der Erfolg dieser Arbeit lag wohl in Säcken voller Laub, die auf den Komposten auf ihr Schicksal warten werden. Was wir Anwohner alle davon hatten war sechs Stunden Lärm in durchaus erheblicher Intensität. Hinzu kamen noch Baumarbeiten, die mit Motorsägen erledigt werden mussten.

Mit anderen Worten: Es wurde in unserer Wohnanlage laut wie auf einem Flughafen. Der Sound des Herbstes.

Seit März bin ich im Homeoffice, weshalb ich die volle Ladung Herbstsound abbekam. Klar, dass ich dann die Fenster geschlossen habe. Mir war immer klar, dass dieser Tag kommen würde, an dem mein Vermieter die Gärtner zu dem Konzert bestellen würde.

Im Nachhinein aber war ich erstaunt, wie meine Reaktion auf den Sound ausfiel. Ich habe ihn voll und ganz akzeptiert und weitgehend darauf verzichtet, ihn zu beurteilen ob angenehm oder unangenehm. Dass der Sound mit seinem Getöse da war, durfte sein. So konnte ich ihn bewusst wahrnehmen ohne mich daran allzusehr zu stören und ihn dann wieder aus meinem Bewusstsein herauslassen. So kann ich sagen, dass ich daher keine Minute mich über diesen Sound geärgert habe, was mir früher nicht gelungen ist.

Wenn wir das, was wir als unangenehm empfinden und beurteilen, akzeptieren und es anschließend wieder loslassen, bleibt für Ärger kein Raum. Auf Dinge wie diesen Sound des Herbstes, Regenwetter, Corona-Folgen usw. haben wir so gut wie keinen Einfluss. Diese Dinge ereignen sich, ob wir ihnen zustimmen oder nicht. Wir können aber beeinflussen, wie wir damit umgehen. Das ist die Freiheit, die wir in jedem Fall haben. Und: Was nützt uns der Ärger und der Kummer, den uns Dinge bereiten, auf die wir keinen Einfluss haben?

Allzuoft vergleichen wir unsere jetzige Situation mit einem Idealzustand und stellen fest, dass es eine Lücke gibt. "Ach, wenn doch bald Stille wäre." "Ach, gäbe es doch keine Pandemie." Dieser Vergleich des Istzustandes mit dem Idealzustand führt bei uns zu einem Leiden, das zu Unzufriedenheit, Kummer, Frustration und vielen anderen ungesunden Zuständen führt. Ist es uns das wert? Wollen wir die Lebenszeit mit diesen Dingen verbringen?

Etwas in mir sagt mir: Ich möchte die Freiheit meines Geistes in dieser Hinsicht bewahren, besser zurückgewinnen. Gelassen läuft das Leben einfach besser.

So: In dieser Woche erwarte ich einen Anruf meiner Onkologin. Gestern war ich bei ihr zum Bluttest. Diese Werte sind in Ordnung. Aber ob die Proteinwerte auch in Ordnung sind, konnte sie mir noch nicht sagen, das stellt sich anhand des Testes erst nach ein paar Tagen heraus. Wenn sich zu viele "Leichtketten" (unvollständige Eiweißverbindungen im Blut, das Symptom des Multiplen Myeloms) in meinem Blut gefunden haben, dann will sie mich morgen oder übermorgen anrufen. Das hat durchaus etwas von Spannung. Leider habe ich aktuell ein paar hartnäckige Schmerzen im Rücken. Ob dieser orthopädisch oder onkologisch zu behandeln sind, das ist die Frage.

Und dann soll mein Geist frei sein und bereit, auch unangenehme Botschaften aufzunehmen, den Sachverhalt als solchen akzeptieren und damit zu leben. Dass das ein Prozess ist, das ist mir klar.

Aber ich bin auf dem Weg.


Freitag, 15. Mai 2020



Veränderungen

Eines ist mal klar: Ich hasse Veränderungen. Immer dieser Wechsel und je älter ich werde, desto wechselhafter erscheint mir die Welt. Wo sind all die schönen und vertrauten Dinge hin, mit denen ich groß geworden bin? Das Wählscheibentelefon, die Telefonzelle, die Pfennigstücke, die Schallplatten.... Davon ist heute nicht mehr viel übrig. Wo sind all die vertrauten Menschen hin, mit denen ich groß geworden bin? Viele sind mittlerweile verstorben, viele sind nun sehr alt und sehr krank - und zu noch mehr besteht heute kein Kontakt mehr. Wo ist mein unmittelbares Erleben hin? Das Rauschen einer Kastanie im Frühlingswind, der Geruch von Vanilleeis aus der Waffel, das Kommen und Gehen der Schiffe im Hamburger Hafen, das ist heute definitiv anders. Wo sind meine Dialoge hin? Glaubt es oder nicht, doch stand ich im inneren Dialog mit Goethe, Schiller, Nietzsche, Voltaire, immer wenn ich ihrer Bücher öffnete und darin las.

Das Leben ist Veränderung, dynamisch, unvorhersehbar. In der Rückschau erkennt man erst die Tragweite und das Ausmaß dieser Veränderungen.

Das ist nun keine Nostalgie, denn die Schattenseiten meiner Vergangenheit sind mir bewusst. Das fängt beim Hundehaufen auf dem Gehweg (früher sehr häufig, heute recht selten) an und hört bei gewissen Erlebnissen nicht auf, die ich hier nicht ausbreiten möchte.

Das Leben ist Veränderung, die ich erlebe und wozu "ja" zu sagen mir bislang schwer gefallen ist. Bislang.

Bin ich heute noch derselbe wie früher? 

Veränderung heißt auch, Abschied zu nehmen vor Vorstellungen und Einstellungen.


Ein Bild, das meine Welt auf den Kopf stellte

Vor einiger Zeit habe ich in einer Fernsehdokumentation ein Bild gesehen, das ich zwar schon oft betrachtet habe, das mir aber erst neulich in meinem inneren Erleben richtig bewusst wurde. Zu sehen ist darauf Adolf Hitler, der gerade seinen Arm hebt. Neben ihm auf der Tribüne steht der alte königlich preußische Generalfeldmarschall August von Mackensen, ein Feldherr des Ersten Weltkriegs. 

Ich bin durch meine Großmutter, die Jahrgang 1906 war, von Kindheit an preußisch geprägt worden. Die Geschichte des alten Preußen hatte mich da immer fasziniert. Die Könige, Feldherren, Soldaten, Politiker, später auch die Künstler und die Geschäftsleute übten eine geradezu magische Anziehungskraft auf mich aus. Das war für mich der Inbegriff eines Staates, den ich wollte. Der Höhepunkt des preußischen Staates war für mich die Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871. Theodor Fontane sah damals bereits den Abstieg Preußens, für mich fing es es da erst richtig an und meine grenzenlose Bewunderung für das alte Preußen übertrug ich 1:1 auf das Kaiserreich, selbst dasjenige von Kaiser Wilhelm II.. Konservativ, christlich, soldatisch, geordnet, diszipliniert und aus wenig Mitteln viel Ertrag machen.

Das Mackensen-Hitler-Bild aber zerstörte nun mein Preußenbild. Mackensen hat sich stets als aufrechter Preuße gesehen, kaisertreu und tief schwarz-weiß. Doch hat all sein heroisches Preußentum ihn nicht davon abgehalten, mit den Nationalsozialisten gemeinsame Sache zu machen. Vielmehr erschien ihm seine preußische Gesinnung als Auftrag, sich Adolf Hitler gefügig zu machen. Dabei war Mackensen nur einer unter vielen kaisertreuen Preußen, die sich dem Nationalsozialisten andienten und dabei schuldig wurden. 

Das hat Preußen, jedenfalls das Tschingderassabummpreußen, das ich als Kind und Jugendlicher so sehr verehrt hatte, durch und durch korrumpiert. Der moralische Ruin Preußens wurde mir bei diesem Bild deutlich. Damit nahm ich Abschied von diesem Bild, Abschied vom alten Preußen meiner Großmutter, Abschied von den Pickelhaubenträgern, deren Standbilder noch heute unsere Städte zieren. 


Achtsamkeit

Das ist irgendsoein Begriff, der als neues Modewort gilt: Achtsamkeit. Mir begegnete er das erste Mal, als ich auf die sogenannten MBSR-Kurse stieß. MBSR ist die Abkürzung für "Mindfulness-based stress reduction", was man mit Achtsamkeits-basierte Stressreduzierung übersetzen kann. Ich weiß nicht mehr, wie es im einzelnen dazu kam, aber seitdem ich vor zwei Jahren durch Gespräche mit Arbeitskollegen auf das Thema Buddhismus kam, hatte mich wenigstens die Meditation nicht mehr losgelassen. Bei der Recherche im Laufe der letzten 18 Monate kam ich dann auf einen MSBR-Kurs, zu dem ich mich dann angemeldet habe.

Das waren acht Abende und ein Sonnabendtermin von Januar bis März. Leider konnte ich nicht an allen Abenden teilnehmen. Von den acht Abenden habe ich die ersten drei auslassen müssen, weil ich da im Krankenhaus lag. Der Termin auf dem Sonnabend und der letzte Kursabend fielen wegen der Corona-Krise aus. Es blieben mir also "nur" vier Abende.

Was habe ich da kennengelernt? Ganz wichtig: Die Wahrnehmung der Gegenwart. Das Leben in der Gegenwart. Wir sind oft abgelenkt, denken an die Dinge von Morgen oder den Ärger von gestern und nehmen nicht mehr wahr, dass wir genau hier und genau jetzt leben. Um dies "achtsam", d.h. präsent und bewusst wahrzunehmen, dafür gibt es MBSR-Übungen. Diese Übungen entstammen dem buddhistischen Kontext aus Zen und Vipassana, integrieren aber auch einzelne Übungen aus dem Hatha-Yoga. Im Grunde kreisen die Übungen immer um die Wahrnehmung des eigenen Atems, der uns immer wieder ins Hier und Jetzt zurückführt.

Im Zusammenhang mit dem MBSR und in der Folge dieses Kurses habe ich für mich beschlossen, insbesondere den meditativen Teil auszubauen und fortzusetzen, den ich als besonders wirkungsvoll gehalten habe. Dazu beschäftige ich mich mit einigen zeitgenössischen Büchern über Meditation, in denen ich auch Teile der MBSR-Übungen wiedererkenne. Natürlich gehört Jon Kabat-Zinns Werk dazu, der MBSR "erfunden" hat. Dann aber fand ich auch Pema Chödrön, eine Amerikanerin, die buddhistische Nonne geworden ist und Yongey Mingyur Rinpoche, von deren Ausführungen zur Meditation ich profitieren konnte.

Wie meditiere ich eigentlich? Meistens morgens etwa 20 Minuten, wobei ich mich alle 5 Minuten durch einen Gong an die Zeit erinnern lasse. Ich sitze dazu auf einem Zafu im burmesischen Sitz, zähle meine Atemzüge oder mache mir die Gegenwart meines Atmens bewusst. Ich mache also geschlagene 20 Minuten lang nichts. Nichts. Jedenfalls nichts Produktives. Dabei kommen jede Menge Gedanken auf, denen ich mal nachspüre, mal aber auch die Tür zuschlage. Immer wieder komme ich dann zum Atem zurück, dem eigentlich meine Achtsamkeit gelten sollte. Aber ich lerne dabei, dieses Zurückführen auf den Atem "sanft" zu machen, keineswegs mit Schuldgefühlen wegen der Unaufmerksamkeit. Je mehr ich nun meditiere, desto mehr kann ich die auftauchenden Gedanken kommen sehen, sie kurz verweilen lassen und dann wieder - wie durchziehende Wolken - beim Entschwinden beobachten. Geräusche, Empfindungen, Ablenkungen nehme ich während der Meditation als gegeben wahr, beurteile aber nicht, ob sie stören oder schön sind. Sie sind einfach "da". So übe ich während der Meditation außerdem, ganz bewusst auf Bewertungen wie "passt" oder "passt nicht", auf das Urteilen, Beurteilen und Verurteilen von Phänomenen zu verzichten. Und mein Geist wird klarer.

Nach 20 Minuten ist dann die Sitzung vorbei. Erlebe ich "Frieden"? Eigentlich nicht. Statt dessen erlebe ich, achtsam auf das Hier und das Jetzt zu sein. Alles andere zählt nicht. "Frieden" stellt sich später ein. 

Mein Geist ist wie das Wasser in einem kleinen Fluss. Das Wasser ist von seiner Natur her klar. Durch Strömungen, Felsen, Verwirbelungen und Wind können andere Dinge ins Wasser fallen oder vom Grund des Flusses aufgewirbelt werden und wir sehen das Wasser als trüb an. Dabei ist es nicht von sich aus trüb, sondern wegen der äußeren Einflüsse. Die Natur des Wassers ist klar. So wie die Natur des Wassers Klarheit ist, so will ich auch, dass mein Geist klarer wird. Dabei hilft es, wenn ich meditiere.

So erlebe ich es, dass ich loslassen kann: Die Bindung an die Vergangenheit, vor allem deren nostalgische Verklärung. Aber auch die Sorge vor der Zukunft, vor dem, was kommt und droht. Hier und Jetzt, darum geht es. Hier und Jetzt, da liegt der Schlüssel zum Glück.

Das Gewesene ist nur ein Schatten.
Das Kommende ist nur ein Schatten.
Das Hier und das Jetzt aber leuchten hell und klar.

Der Zafu (Meditationskissen)



Ein alter Schulfreund

Letztes Jahr im November hatte ich Abiturstreffen. Das findet alle fünf Jahre statt, immer im November, und es kommen von den rund 120 Abiturient*innen des Jahrgangs 1984 des Elise-Averdieck-Gymnasiums immer so an die 40-50 Ehemalige zusammen. 

Nun ergab es sich, dass ich einen alten Schulfreund dort zum Gespräch traf. Er ist Jurist geworden und im Gegensatz zu mir hat er es auch als Firmenjurist in Hamburg zu etwas gebracht. Allerdings ist er spät Vater geworden. Gemeinsam sind wir vor über 35 Jahren in die Junge Union eingetreten, gemeinsam hielten wir damals in der Schule die Fahne des bürgerlichen politischen Lagers hoch, ehe sich nach dem Abitur unsere Wege trennten.

Ich hatte also ein Bild von ihm vor Augen.

Dann erzählte er mir, dass ihm nun andere Dinge wichtig geworden wären. Er könne sich vorstellen, seinen Karrierejob zu schmeißen und sich seiner wahren Leidenschaft ganz und gar zu widmen. Ich war erstaunt. Denn er hat Yoga für sich entdeckt und sich neben seinem Beruf zum Yoga-Lehrer ausbilden lassen, gibt auch bereits einzelne Kurse. Die Beschäftigung mit Yoga prägt nun auch sein Weltbild, seine Einstellungen und auch sein Verhalten. Einiges hörte sich für mich nach New-Age an, anderes wiederum faszinierte mich.

Mir imponierte, dass er bereit war, aus seiner Leidenschaft etwas zu machen, das ihn ganz und gar ausfüllt.

Mir wurde bewusst, dass das auch eine Anfrage an mich ist. 

Mir wurde auch bewusst, wie sehr sich ein Mensch, mit dem ich vor 35 viel geteilt und verbunden hatte, mittlerweile verändert hat. Von dem JU-Streiter von einst war nichts mehr übrig geblieben als Erinnerung. Was ist von mir von damals geblieben?

Ich gebe zu, dass ich vieles hinterfrage, was mein Leben bislang geprägt hat. Vieles davon hat sich als nicht mehr passend erwiesen. Warum schleppe ich es noch mit mir herum? Wo kann ich etwas verändern? Wo heißt es, Abschied zu nehmen von politischen Einstellungen, religiösen Überzeugungen? 

Jedenfalls bin auch ich nicht mehr derselbe, der ich vor Jahren gewesen bin. Das ist mir nun klar geworden. Was für den einen banal ist, ist für mich eine Revolution. 

Panta rhei heißt es beim Philosophen Heraklit, alles fließt. Der Fluss fließt, bleibt in seiner Erscheinung meistens immer gleich, verändert sich aber ständig. 

Panta rhei.







Sonntag, 22. März 2020




Multiples Myelom in den Zeiten von Corona



Im Laufe der letzten Jahre bin ich schon fast ein Fachmann in Sachen "medizinisches Vokabular" geworden. Ich bekam es mit so vielen Ärzt*innen (wie schreibt man das richtig?) zu tun, die mir allerhand auf dem Weg gaben. Ein positiver Effekt, den das alles auf mich hat, besteht darin, dass ich meinen Körper mehr und mehr aus der medizinischen Perspektive betrachten kann. Was bedeutet es zum Beispiel, wenn man eine Stammzellentransplantation bekommt? Wie entsteht eine Krebszelle? Was macht und wie wirkt die Chemotherapie? Was bedeutet "unheilbar"? Die ganze Tortur dauert nun mehr als drei Jahre und ist von diversen Aufs und Abs gekennzeichnet.

Wo stehe ich heute? Morgen muss ich zu meiner neuen Onkologin. Die erzählt mir dann, wie es um mich steht.

Und in dieser Zeit dann: Corona.

Viele Menschen sind nun besorgt. Allenthalben wird die Angst beschworen. Der unsichtbare Feind, winzigklein, bedroht uns. Uns alle, mich auch. Eben noch war der Mensch kerngesund, nun bereits infiziert und auf gut Glück in die Behandlung geschickt. Die Medien, klassische wie digitale, bespielen das Thema rauf und runter. Irgendwann dreht dann fast jeder Mensch durch. Das ist ja auch nicht zum Aushalten.

Im letzten Blogpost hatte ich nun bereits darauf hingewiesen, dass ich zur absoluten Risikogruppe gehöre. Sollte ich das Pech haben und die Covid-19-Krankheit bekommen, wird es für mich durchaus sportlich. Mein Immunsystem ist miserabel, dank MM habe ich die berühmt-berüchtigte "Vorerkrankung". Meine ganz private Corona-Party wäre dann der Überlebenskampf.

So weit, so wenig schön.

Wie gehe ich nun mit der neuen Situation um?

Mein Arbeitgeber hat mir sehr deutlich gemacht, dass es mir als Risikoperson verboten ist, die Firma zu betreten. Dann sind alle Vorkehrungen getroffen, um mir ein Arbeiten von zuhause aus zu ermöglichen. Seit dieser Woche nun bin ich im "Homeoffice". Ich kann nicht sagen, dass mir das besonders gefällt, ich brauche eigentlich den Abstand von den eigenen vier Wänden, um effektiv zu sein. Es gibt aber keine vernünftige Alternative.

Gerne bin ich auch draußen. Wer mich kennt weiß, dass ich jeden Tag meine 10.000 Schritte abreiße. Das bedeutet, dass ich bei fast jedem Wetter eine zeitlang draußen bin. Das habe ich bisher auch nicht geändert, sehe indessen zu, dass ich anderen Menschen aus dem Weg gehe. Schließlich ist mir unbekannt, ob diese Menschen dann doch eine Krankheit mit sich tragen, die sich auf mich übertragen lässt. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.

Stets versuche ich mir ins Gedächtnis zu rufen, was über Corona und Co. bekannt ist. Das Virus fliegt ja nicht durch die Luft, insofern gibt es Orte, an denen ich sicher bin. Dies ist v.a. das eigene Heim. Ich kann es nicht nachvollziehen, dass immer noch Zeitgenoss*innen unterwegs sind, die meinen, sie müssten in dieser Zeit kreuz und quer durch die Weltgeschichte zu ihrem Vergnügen gondeln. Aber sicher fühle ich mich einfach zuhause.

"Ein Schnupfen saß auf der Terrasse,
Dass er sich ein Opfer fasse.
Und stürzt sich dann mit Ingrimm
Auf einen Menschen namens Schrimm.
Paul Schrimm sagt prompt "Haptschü!"
Und hat ihn dann bis Montagfrüh".
(Christian Morgenstern)

So ist es eben bei Corona nicht. Was bleibt ist das Händewaschen.

"Sorgt nicht" sagt Jesus in der Bergpredigt. Als ich Christ wurde, dachte ich, damit wären alle Sorgen abwesend, und "wehe, wehe", wenn du dich sorgst. Verstärkt wurde dies durch eine gewisse vulgärtheologische Überlegung, die meinte, wenn ich mich sorgte, dann offenbarte das einen Glaubensmangel und wäre folglich Sünde. 

Hmn, sind also Sorgen dann Sünde? Doppeltes Ungemach, doppelt Pech gehabt?

Ich meine, dass die Sorgen zum Menschenleben dazu gehören - gerade auch in dieser Zeit. Jesus sagte ja nicht nur, dass wir uns nicht sorgen sollen, sondern auch dass es reicht, wenn "jeder Tag seine eigene Sorge hat". So ist es: Von Tag zu Tag denken. 

Viele Menschen fragen jetzt:

"Was kommt nach der Corona-Zeit?"
"Wie lange dauert die Ausgangssperre?"
"Werde ich mich infizieren und was bedeutet das dann?"
"Wird mein Job diese Zeit überstehen?"
"Werde ich an Corona sterben?"

usw.

Diese Fragen sind mir nicht fremd, siehe oben. Es sind Fragen, die ich mir seit drei Jahren stelle, nur die Krankheit ist eine andere - zudem sehr reale. Aber meine Krankheit hat mir beigebracht, dass wirklich jeder Tag seine eigene Sorge hat. Als ich in die Chemotherapie hineinging war mir nicht klar, welche Strapazen auf mich zukommen werden. Jeder einzelne schmerzhafte Schritt, den ich zu gehen hatte, erforderte meine ganze Kraft. Hätte ich mich immer mit Sorgen und Fragen aufgehalten, wäre ich zusammengebrochen. So ist das auch heute: Welche Herausforderungen stehen heute an? Worüber sorge ich mich FÜR heute? 

Die einzige Zukunftsperspektive, die ich mir stets erlaubt habe, ist: Hoffnung. 

Hoffnung ist das, was wir investieren dürfen, wenn wir an die Zukunft denken. Hoffnung gibt uns die Kraft, in diese Zeit hineinzugehen. Hoffnung motiviert uns, wenn Medien, Umwelt und andere Menschen uns die Probleme vor Augen halten. Hoffnung ist der Grund für Optimismus.

"Es gibt keine vernünftige Alternative zum Optimismus."






Dienstag, 10. März 2020


CORONA - Grüße aus der Risikogruppe


In der ersten Nacht, die ich im Januar/Februar im Krankenhaus wegen Gürtelrose verbringen durfte, wurde ich spätabends noch von einer Dermatologin geweckt. Meine Bluttests wären da und - siehe da - die weißen Blutkörperchen wären ziemlich weit unten. Das war für mich nicht so überraschend, für die junge Ärztin indessen schon. Ich bat, umgehend Kontakt mit den UKE-Onkologinnen aufzunehmen, die wüssten gut bei mir Bescheid. Was der Dermatologin Anlass zur Besorgnis war, hielten die Onkologinnen für noch OK. Aber selbstverständlich waren und sind mir die Konsequenzen niedriger weißer Blutkörperchen bekannt: Das Immunsystem ist ramponiert.

Mit dem Bakterium, das meinen Aufenthalt im UKE um zweieinhalb Wochen verlängerte, wäre ein normales Immunsystem vermutlich gut klar gekommen. Bei mir war das anders, das wurde mir klar.

Und nun: CORONA!

Vorausgeschickt: Ich bin gegen Influenza geimpft und genieße auch den Schutz gegen die meisten Erreger einer Lungenentzündung. Für MM-Erkrankte sollte das zur Standardausrüstung gehören. Trotzdem erleide ich immer wieder einige Infekte, darunter auch die grippalen, die es so in Hamburg und Umgebung gibt. Mein Immunsystem lässt vieles rein, was andere Immunsysteme rücksichtslos ausmerzen.

Und nun: CORONA!

So richtig gefährdet ist bei Corona die "Risikogruppe". Klar, dass auch andere Menschen daran erkranken können. Aber in der Risikogruppe bestehen lebensgefährliche Risiken, sollte man an Corona erkranken. Wer gehört zur Risikogruppe? Alte und Menschen mit "Vorerkrankungen". Hurra, in der Liga spiele ich mit, denn mit "Vorerkrankung" kann ich dienen. Das Multiple Myelom gehört definitiv dazu. Ich kenne noch eine Frau, die an COPD ("Raucherhusten") erkrankt ist. Die darf sich ebenfalls dazu zählen. Sollten wir uns mit Corona anstecken, dürfen wir uns auf eine abenteuerlich-spannende Zeit einstellen.

Pardon, ich habe kein Verständnis, wenn Corona auf die ganz leichte Schulter genommen wird. "Mir passiert schon nix" sagen viele Menschen. Sie haben auch recht, IHNEN passiert auch wenig. Da ist dann Corona ein Infekt wie viele auch, nur das Fieber ist etwas höher und die Dauer etwas länger, als sonst gewohnt. In der Zwischenzeit aber haben diese Leichtsinnigen ausgiebig Gelegenheit, Menschen wie mich anzustecken, für die ein Infektion eben gravierend verlaufen kann.

Pardon, ich habe kein Verständnis, wenn simpelste Hygienemaßnahmen, die doch in aller Munde sind, außer acht gelassen werden. In die Gegend husten, die Hände freudig zur Begrüßung entgegenstrecken und dann leicht verägert sein, wenn ich sie nicht ergreife... Die Liste kann fortgesetzt werden. Ich will mich partout nicht mit diesem Zeugs infizieren, besten Dank.

Pardon, ich habe kein Verständnis, wenn sich Menschen die erforderlichen und harmlose Impfungen auslassen. Noch gibt es bei Corona keine Impfung. Aber bei Grippe etwa. Trotzdem lassen sich viel zu wenige Menschen dagegen impfen - und gefährden dadurch Menschen wie mich.

Und nun: Corona!

Ich meide nun öffentliche Verkehrsmittel, auch größere Menschenansammlungen (wenn möglich). In meiner Firma arbeite ich - wie alle in meiner Abteilung - in einer Art Box aus Kunststoffteilen, die um meinen Arbeitsplatz herum gebaut ist und die nicht nur Geräusche dämmt, sondern auch Viren fernhalten kann. Seitdem ich aus dem UKE entlassen worden bin, nutze ich wieder das Auto, um von A nach B zu kommen. Die Vorstellung, in einer vollbesetzten U-Bahn zu sitzen, gruselt mich. Dann wasche ich mir die Hände bis zum Exzess. 

Gibt es Grund zur Panik? Ich meine, nein. Aber etwas mehr Gedanken als sonst können wir uns alle machen, wie wir mit Infektionskrankheiten und unserer Verantwortung für uns selbst und andere umgehen können.

Ich gehöre zur Risikogruppe.

Mittwoch, 26. Februar 2020


Wieder im Krankenhaus und Corona

Mein Geburtstag am 20. Januar war gerade vorbei, da spürte ich in meinem Mund linksseitig ein Stechen und Ziehen. Sofort dachte ich an eine Mundschleimhautentzündung, war aber doch erstaunt, dass sich die diversen Aphten im Mund nur auf der linken Seite gebildet hatten. Einen Tag später stellte ich fest, dass die Akne-Pickel, die erstmals seit vielen Jahren wieder im Gesicht sprossen, erstens nur auf der linken Seite wuchsen, zweitens auch nicht weggehen wollten. Als auch noch die ganze linke Wange stechend schmerzte, ging ich zu meiner Hausärztin.

Diagnose: Gürtelrose, im Gesicht, halbseitig, bitte bald ins Krankenhaus gehen. Hier könnten auch Augen und vielleicht sogar das Gehirn betroffen werden. Gefahr.

Auf dringende Bitte meiner Frau fuhr ich noch am selben Tag ins Krankenhaus, das war der 23. Januar, abends. Im UKE machte man mit mir keine langen Geschichten, sondern brachte mich sofort in die dermatologische Abteilung. Infusionen und Tabletten. Entlassungsperspektive: 10-12 Tage, weil ich als Myelom-Patient zu den besonders risikoreichen Probanden gehöre. Die Dermatologen wunderten sich über meine Blutwerte ("die Leukozyten sind viel zu niedrig") und glichen die Daten mit den Onkologen ab ("kein Wunder, ist aber ok").

Nach einer Woche war die Gürtelrose praktisch weg, nur ein paar Krusten waren geblieben. Nun aber kam es zur Infektion der Infusionsstelle. 

Vom 30. Januar an bis zum 2. Februar hatte ich einen Fieberschub nach dem nächsten, bis zu 39,3 Grad, und zusätzlich schwoll mein linker Arm an. Nach ein paar Tagen hatten die Ärzte aus der Infektologie die Diagnose: Ein Keim war von meiner Haut in die Blutbahn geraten und hatte dort eine erhebliche und durchaus kritische Infektion hervorgerufen. Sein Name: Staphylococcus aureus. Nun erhielt ich vier Antiobiotkum-Infusionen täglich: Morgens um 6, mittags um 12, abends um 18 und nachts um 24 Uhr. Leider griff das Antibiotikum nicht nur den Erreger an, sondern auch die Wände meiner Venen, sodass erstens alle drei Tage ein neuer Zugang gesucht werden musste, zweitens es mir während der Infektionen oft vorkam, als wenn jemand eine brennende Zigarette stundenlang in meinem Arm ausdrückt, drittens mein rechter Arm schließlich auch an drei früheren Zugängen gewatig anschwoll.

Das ging zwei Wochen lang so, von Anfang bis Mitte Februar. Am 18. Februar, nach dreieinhalb Wochen, wurde ich dann entlassen. Es waren mit die härtesten Wochen meines Lebens.

Auf weitere Details will ich hier lieber nicht eingehen.

Warum bin ich krank geworden? Meine Krebsmedikamente verursachen bei mir eine deutliche Schwächung des Immunsystems. Da braucht es oft nicht viel und ich bin sozusagen "dran". Deshalb fing ich mir den Auslöser für die Gürtelrose ein, deshalb habe ich auch die Infektion im Krankenhaus bekommen. Wenn es noch eines Hinweises bedurft hätte, nun habe ich ihn endlich deutlich vor Augen: Ich muss besser auf meine alltägliche Gesundheit aufpassen.

Überall dort, wo ich Erregern in Massen ausgesetzt bin, muss ich besonders vorsichtig sein: Auf Massenveranstaltungen, in öffentlichen Verkehrsmitteln, im Supermarkt usw... Das wird mit Sicherheit auch zu einer Veränderung in den Lebensgewohnheiten führen. So denke ich zum Beispiel sehr ernsthaft darüber nach, anstelle der geliebten Fahrt mit der U-Bahn zu meinem Arbeitsplatz wieder das Auto zu nehmen. 

Und nun Corona.... Früher habe ich so etwas ziemlich locker gesehen. Das läuft irgendwie an mir vorbei. Nun aber bin ich gewarnt: Die Risikogruppen für eine gefährliche Infektion sind Alte und Immungeschwächte, also im letzten Fall Menschen wie ich. Das mich das nun beunruhigt, liegt auf der Hand. Andere Infektionskrankheiten kann ich u.U. ja mit Antibiotika in Schach halten, gegen andere (Grippe, Lungenentzündung) bin ich gut geimpft. Aber hier stehe ich erstmals in meinem Leben vor einer potenziell für mich sehr gefährlichen Krankheit. 

Sind wir in Gottes Hand? Bin ich in Gottes Hand? Ja, gewiss. Es stellt sich nur die Frage, ob Gott sich darunter etwas anderes vorstellt als ich.