Mittwoch, 1. Dezember 2021

 


Ergebnisse einer Dekonstruktion


Ich bin jetzt nach fast drei Wochen aus dem Krankenhaus entlassen und wieder im Hause. Das war wirklich keine schöne Zeit. Diesmal gab es viel Übelkeit, einen ziemlich unleidlichen Zimmergenossen die meisten Tage (und Nächte), Ekelgefühle en masse und zum unguten Schluss noch ein hartnäckiges Fieber, das meine Entlassung deutlich verzögerte. Das meiste ertrug ich durch Gleichmut und Humor, das exzellente Pflegepersonal und ein guter Psychoonkologe taten ihr Übriges, dass ich meinen Verstand nicht verlor. In dieser Zeit reifte mein Entschluss, an diesem sich allmählich leerenden Ort eines Blogs (den kaum noch jemand liest) kurz zu notieren, was ich christlich noch glaube - und was nicht. Das sind freilich keine Dogmen, keine Lehre und sicherlich kann so ziemlich jeder Bibelfundi mit einer Reihe von Zitaten meine Glaubenssätze aushebeln. Aber das ist das, was nach der Dekonstruktion meines christlichen Weltbilds in den letzten fünf Jahren übriggeblieben ist bzw. sich neu gefunden hat.

Was ist Dekonstruktion? Den Begriff habe ich erst kürzlich gefunden. Er beschreibt den Prozess, in welchem Menschen, die vormals geglaubt haben, ihre tradierten, erlernten oder angeeigneten christlichen Überzeugungen in Frage stellen, konfrontieren und abbauen. Dies betrifft in der Regel Menschen aus konservativ-christlicher Sozialisation, die in Deutschland in den verschiedenen Freikirchen aller Denominationen, Teilen der Landeskirchen (hier die pietistische Szene) und Sondergemeinschaften wie der Neuapostolischen Kirche und den Zeugen Jehovas gibt. Als ehemaliges Mitglied einer freikirchlichen Pfingstgemeinde gehöre ich auch dazu. Bei vielen Menschen führt die Phase der Dekonstruktion in den Agnostizismus oder Atheismus, andere wenden sich anderen Weltanschauungen und Religionen zu, wieder andere kehren in die christliche Kirche zurück, selten aber in die, aus der sie ursprünglich stammen.

Bei mir ist der Dekonstruktionsprozess nicht abgeschlossen. Aber nach dem krankheitsbedingten Zweifel an Gott habe ich mich intensiv mit anderen Deutungsvarianten beschäftigt. Da kam ganz zwangsläufig der auf Vernunft aufbauende Atheismus/Agnostizismus ins Spiel. Noch stärker aber habe ich mich mit dem Buddhismus beschäftigt, v.a. in seiner tibetischen und in seiner Zen-Variante. Insbesondere dieser Weltreligion, die man besser eine Welt-Psychologie nennen kann, verdanke ich viel an Selbsterkenntnis und an Achtsamkeitsbewusstsein. Aber dann erkannte ich in der Retrospektive einer Begegnung mit ostkirchlicher Spiritualität und der liberalen Theologie der evangelischen Kirche, dass ich im christlichen Glauben, evangelische Variante, zu Hause bin. Ich brauche ein spirituelles Gegenüber, ein "DU", wie es der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber ausgedrückt hat. Das zog mich zurück in die evangelische Kirche, nicht jedoch in die freikirchliche Pfingstgemeinde.

Nach dieser Einleitung: Was glaube ich nicht mehr? Und was glaube ich?

1. Die Bibel ist das Wort Gottes. - Nein, das glaube ich nicht mehr. Die Bibel ist eine Sammlung von Geschichten und Erfahrungen, die Menschen mit Gott gemacht. Als solche enthält sie das Wort Gottes.

2. Alles, was in der Bibel steht, hat sich 1:1 so zugetragen. - Nein, die Bibel ist voller Mythen, Sagen und Legenden, Zuschreibung und Dichtung. Es gab keine Schöpfung in sieben Kalendertagen, keinen Adam und keine Eva, keinen Turmbau zu Babel und keine Sintflut. Das sind Bilder, die uns bestimmte Dinge über Gott und die Welt lehren, aber keine Reportagen aus der Vergangenheit. Die großen Gestalten der Erzväterzeit sind ebenso mythisch wie der Exodus. Mit der Richterzeit treten wir in das Reich der Sagen (ähnlich wie die germanischen Sagen der Völkerwanderungszeit) und erst mit der späten Königszeit erreichen wir verlässlichen historischen Boden. 

3. Die Evangelien sind akkurate 1:1-Berichte über Jesus, von Augenzeugen beschrieben. - Nein, die Evangelien sind lange nach Jesu Tod (und Auferstehung) entstanden. Sie enthalten Teile des Lebens Jesu und propagieren seine Botschaft als Erlöser. Sie sind aber keine Biographien im heutigen Sinne. Ob Jesus übers Wasser gewandelt ist, scheint fraglich. Dass er mehr war als bloß ein Mensch ist für mich unstrittig. Aber er ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in Bethlehem geboren und die Mariengeschichte ein dazugehöriger schöner Mythos. Sicher ist mir seine Kreuzigung und - so unwahrscheinlich es auch ist - seine Auferstehung.

4. Gott ist rachsüchtig und straft uns für unsere Sünden. - Nein, Gott ist ein Liebhaber jedes Menschen, freundlich und voller Güte. Die Trennung des Menschen von Gott, die wir Sünde nennen, mag die Menschen zerstören. Aber Gott sieht die Menschen durch die Liebe seines Sohnes Jesus und notiert nicht wie ein Buchhalter, was wir falsch machen.

5. Gott ist allmächtig und kann alles. - Nein, Gott "kann nicht alles". Er macht, was seinem Charakter entspricht und mutet uns zu, mit offenen Lebensfragen zu leben. Warum leide ich? Warum habe ich Krebs? Warum sterben bei einem Tsunami 200.000 Menschen? Diese Fragen bleiben offen und unbeantwortet. Aber auch im tiefsten Elend ist Gottes Barmherzigkeit grenzenlos und da, wo der Mensch mit seinen Kräften am Ende ist, da spendet Gottes Liebe immer noch Kraft. Ja, Gott ist eine Krücke des Trostes für die Menschen, die ihn brauchen.

6. Glaube ist wichtiger als Wissen. - Nein, beides ist gleich wichtig. Allerdings beschreiben sie unterschiedliche Sphären. Das Wissen erforscht die Welt, beschreibt und vermisst sie. Prinzipell ist die Wissenschaft gott-los. Wenn Gott außerhalb der Welt steht, kann die Wissenschaft ihm nicht auf die Schliche kommen. Daher formuliert der moderne Atheismus sehr richtig: "Es gibt (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) keinen Gott." Dies spiegelt die Möglichkeiten wider, die der Wissenschaft zur Verfügung stehen. Allerdings ist der Atheismus da schmal, wo es um die Frage eines Sinnes geht. Hier kommt der Glaube ins Spiel, was ich einmal die "Musik des Lebens" genannt habe. Der Glaube beschreibt die Welt des Sinnes, den der Glaube einer nicht bewiesenen und nicht beweisbaren Entität namens "Gott" zuschreibt. Es ist so wie beim Mathematiker und einem Maler: Der Mathematiker vermisst die Welt, der Maler malt sie, wie er sie sieht. Beides hat gleichermaßen seinen Platz und seine Grenzen.

7. Alle Religionen außer dem Christentum sind falsch. - Nein. Wir finden viel Wertvolles im Erbe der Religionen und beileibe nicht nur im von den Christen neuerdings so geschätzten Judentum. Alle Religionen sind auf dem Weg der Suche nach der Wahrheit, sie beschreiten unterschiedliche Wege und bedienen sich ihrer kulturellen Möglichkeiten. Aus vielen Gesprächen mit Christen entnehme ich deren Faszination für das Judentum und ich sage dazu auch "Gut so",  nach mehr als 1200 Jahren christlichem Antijudaismus wurde das auch mal Zeit. Ich hingegen finde im Buddhismus viel Wertvolles, das zu meinem Leben als Christ passt. Es ist an der Zeit, die religiösen Scheuklappen fallen zu lassen und von anderen Religionen zu lernen. Christen, die Yoga praktizieren - why not? Christen im Zazen - finde ich gut. Es gibt dabei Grenzen, derer man sich bewusst sein sollte. Wenn der Zen-Buddhismus die Auflösung aller Begriffe und aller Substanz durch Zazen postuliert, dann gehe ich da nicht mit, da ich das mit meinem Glauben nicht vereinbaren kann. 

8. Jesus starb für unsere Sünden im Gericht Gottes. - Nein, Gottvater lässt seinen Sohn nicht am Kreuz sterben und rächt sich an ihm. Ich glaube vielmehr daran, dass die Bosheit von uns Menschen Jesus ans Kreuz gebracht hat und dass er, ein vollkommen Gerechter, an unserer Ungerechtigkeit freiwillig zugrunde gegangen ist. Das Sterben Jesu am Kreuz ist Gottes Solidaritätserklärung für alle leidenden Menschen auf dieser Welt. Leid zu sehen ist nämlich das eine, Leid selbst durchlitten zu haben ist etwas völlig anderes. Mir sind in meinem Krebsleiden Menschen besonders wichtig, die diese oder eine andere schwere Krankheit selber haben oder hatten. Und so ist es bei Gott auch: Er hat seinen einzigen Sohn sterben sehen. Und bei Jesus ist es ebenso: Er ist buchstäblich durch die Hölle des Leidens gegangen. Damit setzt die göttliche Dreieinigkeit ihr Siegel darauf: "Leidender Mensch, ich bin bei dir weil ich weiß und es selbst erlebt habe, wie es dir jetzt gerade geht."

9. Nur die Evangelikalen wissen, wie die Bibel auszulegen ist. - Nein, manchmal haben die Evangelikalen ein frommes Brett vor dem Kopf. Die angebliche 1:1-Auslegung der Bibel ist ziemlich neu, sie entstand in dieser Radikalität erst im 19. Jahrhundert auch in der Auseinandersetzung mit der damals aufbrechenden Welle der Säkularisierung. Wenn schon die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung viele alte Wahrheiten wegspülten, so sollte doch die Bibel nur noch "anhand der Bibel" ausgelegt werden. Diese Theologie aber war neu und reaktiv, selbst vom Geist der Moderne inspiriert. Ich hingegen glaube, dass die Bibel immer wieder neu und im Dialog mit ihrer Zeit auszulegen ist. Sie ist kein museales Schmuckstück, das uns aus antiker Vorzeit überliefert worden ist, sondern ein bleibender Schatz, der ab und zu poliert werden muss,  um keinen Staub anzusetzen.

10. Gott hasst die Sünde und liebt den Sünder. - Nein, das ist so eine Leerfloskel der Elitechristen, mit der sie tatsächlich auf den Sünder eindreschen. "Komm, wie du bist" heißt es als Einladungstext. Tatsächlich darf aber nur der im christlichen Club mitspielen, der sich den dort herrschenden Regeln anpasst. Kann man so machen, entspricht aber nicht der christlichen Botschaft, die bei mir "kommt zu mir, alle die ihr mühselig und beladen seid" heißt. Warum soll jemand, der als Homosexueller angeblich in Sünde lebt, sein Verhalten ändern? Was kann er dafür, dass seine sexuelle Identität von den Elitechristen nicht akzeptiert wird? Ich glaube nicht, dass Gott im Himmel laut "Igitt" über ihn schreit. Vielmehr bin ich überzeugt davon, dass Gott diesen Menschen genauso geschaffen hat, wie er ist und dass Gott ihn genauso liebt, wie er ist. Das Wesen Gottes ist Liebe und der Mensch als Ebenbild Gottes ist damit Widerspiegler der göttlichen Liebe. Das gilt unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Religion und eben auch unabhängig von sexueller Identität. Daher gibt es keinen Grund, von Menschen mit anderer sexueller Identität als der konventionell-konservativen eine Änderung zu erwarten. Und erst recht keinen, ihnen den göttlichen Segen für ihren weiteren Lebensweg (z.B. in einer gleichgeschlechtlichen Ehe) vorzuenthalten. 

Ich könnte noch mehr schreiben, mache hier aber erstmal Schluss.


















Montag, 27. September 2021

 


Was gibt es Neues? Krebs - Glaube - Fußball


Vor drei Wochen hatte ich wieder ein Gespräch mit meiner Onkologin. Da wurden mir meine aktuellen Myelom-Werte präsentiert. Das Ergebnis war erfreulich: Die Werte sind auf Normalmaß gefallen, die Eiweißleichtketten sind soweit OK, die Nierenwerte gut und der Befall des Organismus zurückgedrängt. Sogar die roten Blutkörperchen und der Blutfarbstoff, die mir vor drei Monaten zu schaffen machten, sind wieder da, wo sie hingehören.

"Wir können von Remission sprechen." meinte Frau Doktor. 

Als Myelompatient weiß ich, dass damit der Krebs nicht ausgestanden ist. Es wird weitergehen. Nun wird es noch einen zweiten Termin Anfang Oktober geben, bei dem eine weitere Medizinerin auf meine Werte schauen wird. Dies wird eine ausgewiesene Myelom-Spezialistin im UKE sein, die dann eine Empfehlung geben wird. Ich stehe dann sehr wahrscheinlich vor zwei Alternativen: Die erste ist die Fortführung der jetzigen Therapie als Erhaltungstherapie, d.h. dass ich alle zwei und dann alle vier Wochen zu Chemo und Antiikörpertherapie erscheinen muss. Die zweite ist eine erneute Hochdosistherapie mit (autologer) Stammzellentransplantation. Das würde im UKE stattfinden, ca. zwei Wochen dauern und ein anstrengender Prozess mit vielerlei Infektions-Risiken sein. Aber eine weitere Erhaltungstherapie wäre dann nicht unbedingt erforderlich. Als vermeintlich hartgesottener und leiderfahrener Patient neige ich zu der schnellen Variante: "Lieber einmal richtig heftig und dann ist erstmal Ruhe als ein Dauerkrampf."

Also stehe ich hier vor einer ganzen Reihe von Entscheidungen, die wohl erwogen werden müssen.

Ehrlich: Spaß ist anders.

Dabei erlebe ich, dass diese Krankheit wieder erheblich an meiner Psyche nagt. Die körperlichen Belastungen und die (tödlichen) Gefahren meiner Krankheit mit ihren Begleitumständen haben sich auch auf meine Seele gelegt. Das versteht nicht jeder. "Du siehst doch gut aus." höre ich manchmal. Nun ja, abgesehen davon, dass ich rund 10 Kilo zugenommen habe und die gesunde Gesichtsfarbe von meinem Cortison-Konsum kommt.... Doch plagen mich Gedächtnisschwierigkeiten, Müdigkeit und eine gewisse Form von Traurigkeit gepaart mit tiefen Ängsten. Der Krebs hat sich eben auch in meine Seele gegraben.

Dass ich mich überdies noch mit beruflichen Sorgen herumplagen muss, tut ein Weiteres. Dabei kann ich mich eigentlich nicht über meinen Arbeitgeber beklagen. Mein Chef und seine Vorgesetzten sowie meine Kolleginnen und Kollegen wissen von meiner Krankheit. Damit gehe ich bewusst offen um, sie lässt sich auch nicht verstecken. Ich bin außerdem sehr dankbar, dass meine Vorgesetzten auch Anteil an meinem Schicksal nehmen und mir dabei wohlgesonnen sind. Das ist nicht selbstverständlich, wenn man chronisch kranke Mitarbeiter hat, die nicht mehr so leistungsfähig sind, wie es eigentlich gewohnt war. Doch unglücklicherweise stehen im Unternehmen einschneidende Umstrukturierungen bevor. Meinen bisherigen Job werde ich dann verlieren, der ist in der schönen neuen Welt nicht mehr vorgesehen. Und was dann? Erhalte ich eine gleichwertige Position? Muss ich Einkommenseinbußen befürchten? Diese Unsicherheit belastet mich schon. Immerhin - und auch das ist ein Grund zur Dankbarkeit - muss ich nicht befürchten, infolge der Umstrukturierungen überhaupt entlassen zu werden.

Es sind noch andere Auswirkungen in meinem Leben. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass ich mich noch einmal neu finden muss. Wer bin ich? Was sind meine Interessen? Was sind meine Werte? Wem will ich mich aussetzen?

Prozesshaft entwickelt sich dabei meine Rückkehr in den christlichen Glauben. Ich profitiere sehr von den verschiedenen Formen kontemplativer Spiritualität, die im orthodoxer und katholischer Tradition wurzeln. Im Rahmen meiner Frage, wer ich bin, stellte sich sogar die Konversionsfrage: Soll ich katholisch werden? Oder orthodox? Diese Fragen kann ich mittlerweile gut beantworten: Nein, nein. Meine persönlichen Wurzeln sind in der evangelischen Kirche und der ihr eigenen Freiheit. Ich kann die guten Dinge anderer Konfessionen genießen und doch ganz und gar in meiner Tradition zu Hause sein. Ich muss mich nicht in ein dogmatisches Korsett zwängen (wofür ich in meinem alten Leben vor dem Krebs empfänglich gewesen bin), sondern darf den Glauben in allem Frieden genießen. Christus erscheint nicht als finsterer Richter meines Lebens, sondern als Anteilnehmer an meinem Schicksal und Beistand.

Außerdem darf ich meinen Verstand gebrauchen. Ich nehme mir die Freiheit, die christliche Überlieferung auch hinsichtlich ihrer Stimmigkeit zu prüfen. Die Bibel enthält nach meiner festen Überzeugung die wunderbarsten Geschichten über die Geschichte Gottes mit den Menschen - aber eben keine Geschichtsschreibung in unserem heutigen Sinne. Sie läuft von ihren Rändern auf einen Kern zu, der in der Mitte der Schrift liegt und von dem aus sich die Schrift entfaltet: Christus, gekreuzigt und auferstanden. Die dogmatische Verkleisterung dieser Wahrheit hat mir in den letzten Jahren nicht geholfen, war sogar der Ausgangspunkt meines Zweifels. Gott mit Herz und Verstand glauben - so in etwa stelle ich mir meinen zukünftigen Glauben vor. 


Christus-Tryptichon


Da passt der evangelikale Rettungsglaube nicht mehr hinein, der mich die letzten Jahre geprägt hat. Statt dessen glaube ich sowohl "aufgeklärt", was Schrift und Theologie angeht, als auch "kontemplativ", was die Glaubenspraxis angeht.

In einer Sache bin ich aber mittlerweile konvertiert. Man mag das als Ausdruck der Identitätskrise sehen, in die ich geraten bin. Aber es ist schon spannend, was mit mir passiert, wenn ich meine Sicht der Dinge in einem Punkt verändere, radikal verändere.

Viele wissen ja, dass ich all die letzten Jahr mal mehr, mal weniger intensiv HSV-Fan gewesen bin. Mit dem Verein habe ich viele schöne Erfahrungen gemacht (vor rund 40 Jahren), als auch viele schwere Zeit durchlitten habe (die letzten 10 Jahre). Das hat eine gewisse Entfremdung bewirkt: Soll ich mir das weiter antun? Das hartnäckige Insistieren meines 13jährigen Sohnes, der vor Jahren durch einen Kindergarten-Erzieher zum FC St.Pauli gebracht worden ist, führte mich nun in eine andere Richtung. Eine Stadionführung durch das Millerntor-Stadion konfrontierte mich nicht nur mit den äußeren Einrichtung, sondern auch mit der Philosophie des Vereins. Was ich dort wahrnahm, ist für mich attraktiv: Weltoffenheit, soziales Engagement, kommerzkritischer Fußball, Verwurzelung im Stadtteil und in der Stadt, leidenschaftlicher Einsatz gegen Menschenverachtung und konstruktiver Umgang mit gesellschaftlicher Veränderung. Dieser Verein spielt nicht nur Fußball, sondern bildet eine soziale Größe, die ganz andere Sphären der menschlichen Existenz erreicht. Fast kann man sagen, dass es sich beim FC St.Pauli um eine Weltanschauung im besten Sinne handelt. Das findet sich andernorts nur in Ansätzen. Und für mich ist das attraktiv.



Millerntorstadion



Ob es dabei bleibt? Wer weiß das schon. Gedanklich kommt meine Mutter ins Spiel, die dann sagt "Häng deine Fahne nicht nur in den Wind." Auf der anderen Seite: Schiet wat up. Ich weiß nicht, wie lange ich noch lebe. Leben ist jetzt! Daher bin ich ungeniert konvertiert und kümmere mich nur am Rande um das, was andere Menschen davon halten. Der HSV ist meine Vergangenheit, auf die ich auch mit viel Freude zurückblicke, der FC St. Pauli meine Gegenwart, die ich genießen möchte.

So sei es.


 


















Donnerstag, 19. August 2021

 

Reflexionen

Ich teile diesen Blogpost in zwei Teile: Zuerst geht es um die Krankheit, dann um das Thema Glauben.


Also Krankheit.

Seit Mitte Mai bin ich in meiner Therapie. Ich erhalte einen Antikörper und eine Chemo, das erste per Spritze in den Bauch, das zweite per Infusion. Wegen meiner grotesk zerstochenen Unterarme (nach drei Jahren Infusionen kein Wunder) habe ich mir Ende Mai zusätzlich einen Port legen lassen, durch den jetzt die Infusionen recht komplikationsfrei laufen. Das sind jetzt etwas mehr als drei Monate.

Die ersten Tage waren beschwerlich, ich litt sehr unter den Folgen der Behandlung. Dann traten auch noch Komplikationen mit meinen Blutwerten auf, sodass ich eine Blutkonserve erhalten musste, die aus dem Serum für Blutfarbstoff bestand. Danach ging es mir zwei Tage so richtig schlecht, zumal ich auch mir auch noch eine zusätzliche Spritze für die Gewinnung von Leukozyten setzen musste. Das war Anfang Juni - und ich hing buchstäblich in den Seilen.

Aber danach ging es mir immer besser. Es gab sogar Tage, da musste ich mich daran erinnern, dass ich gerade wegen einer Sch...krankheit in Behandlung. Die Blutwerte haben sich mittlerweile wieder (auf niedrigem Niveau) normalisiert, ich kann mittlerweile sogar in moderater Weise wieder Sport treiben, ohne umzukippen. 

Nur an den Therapietagen geht es mir nicht so gut. Das betrifft aber nur eine tiefe Müdigkeit, die ich nach den Infusionen habe. In der Zwischenzeit habe ich sogar erfahren, woran das liegt. Das ist ein Medikament namens Tavegil, das gegen Allergien wirken soll. Und wie viele Histamine wirkt es ausgesprochen müdigkeitsfördernd. Zurzeit ist mittwochs immer Therapietag. Im Laufe des Mittags stellt sich dann die Müdigkeit hammerartig ein und zieht sich dann bis zum Abend hin. Am Abend übernimmt dann das ebenfalls eingenommene Cortison das Kommando und sorgt für die Gegenreaktion: Dann werde ich sehr wach. Die Folge sind dann - trotz Müdigkeit und Erschöpfung - Schlafstörungen. Aber ich habe mich an dieses Ab und Auf schon gewöhnt und wäre wohl überrascht, wenn es anders wäre.

Ich betone aber nochmals: Ansonsten habe ich viele gute Tage. Wenn ich das mit den Beschwernissen in den ersten Monaten der letzten Therapie vor bald viereinhalb Jahren vergleiche, ist das ein "Klacks mit der Wichsbürste", wie man in Norddeutschland sagt. Es gibt da freilich etwas, das mich sehr beunruhigt, aber das schreibe ich vielleicht ein andermal.

Neulich bat mich meine Onkologin in ihre Sprechstunde und präsentierte mir die Ergebnisse der Therapie bis dahin. Der Befund war erfreulich: Das Myelom ist deutlich auf dem Rückzug, die Proteinleichtketten normalisieren sich wieder, das knochenzerstörende Werk ist deutlich gestoppt und auch die Nierenwerte sind in Ordnung. Kurz und gut: Die Therapie hat angeschlagen bei guter Verträglichkeit. Das ist doch was Erfreuliches.

Leider dämmert mir bei solchen Terminen, dass ich bis an mein Lebensende mit dieser Krankheit werde kämpfen müssen. Und das nicht nur in den trüben Monaten, in denen das Myelom zuschlägt wie jetzt. sondern auch dann, wenn es sich nicht zeigt. Dann kommen andere Begleiterscheinungen der Krankheit zum Tragen: Infektanfälligkeit, Fatigue, psychische Störungen, vielleicht auch Polyneuropathien. Aber ich darf weiter leben. Auch das ist doch bei allem Mist etwas Erfreuliches.

In den letzten Jahren hat mir mein Psychoonkologe Dr. Schulz-Kindermann gute Dienste geleistet. In vielen Gesprächen hat er mich immer wieder aufgebaut und mir geholfen, mit den Folgen der Krankheit und auch mit ihren Begleitumständen klarzukommen. Ohne ihn wäre es oft ein Gang barfuß durch die Hölle gewesen. Mit seinem Rüstzeug konnte ich in die Hölle oft in Kampfstiefeln durchschreiten. Leider wird er nun die Betreuung beenden, er geht in den wohlverdienten Ruhestand. Zwar bleibe ich Patient in seiner UKE-Abteilung, werde aber einen anderen Betreuer erhalten - und auch das erst nach einer unbestimmten Übergangszeit. Sehr schade, auch wenn ich das bereits vermutet hatte. Dr. Schulz-Kindermann ist der führende Psychoonkologe in Deutschland und ich bin sehr, sehr, sehr dankbar, bei ihm in Betreuung gewesen zu sein.

Anfang/Mitte September werde ich dann mit meiner Onkologin besprechen, wie es weitergeht. Im Raum stehen im Großen und Ganzen zwei Optionen: Entweder endet mit der Therapie auch die unmittelbare Behandlung und wir gehen in eine Erhaltungstherapie über - oder ich muss noch einmal eine Hochdosistherapie mit Stammzelltransplantation über mich ergehen lassen. Dazu gibt es eine weitere Knochenmarkpunktion und eine Zweitbegutachtung durch die Onkologisch-Hämatologische Abteilung des UKE, die - wie es sich so fügt - eine der führenden Einrichtungen auf dem Gebiet der Myelomforschung ist. Ich darf also gespannt sein.

La luta continua. Venceremos.


Dann Glaube.

Die Krankheit hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Und nach und nach stürzte auch mein Glaube in sich zusammen. Manchmal explodierte er, die meiste Zeit aber implodierte er. Ich konnte auf die rauchenden Trümmer meines christlichen Bekenntnisses blicken. Nur wenig bis gar nichts war davon übriggeblieben. 

Zuweilen suchte ich mich in Vordergründigem zu orientieren. Dann gab ich zwar Christliches von mir, das aber war nur Oberfläche. Frommes Gelaber, das ich in den letzten 20 Jahren auswendig gelernt hatte. Christliche Floskeln halt. Tatsächlich war da nicht mehr viel.

Ich hatte ja schon erzählt von meinem Erlebnis im Mai/Juni diesen Jahres, als ich das Bedürfnis nach dem DU hatte. Das hat sich bis heute nicht gelegt. Und so krabbele ich mühsam zurück in den Glauben an Jesus Christus. Es ist schwieriger, als ich dachte.

Im Internet habe ich eine Initative gefunden, in der ehemals evangelikale Christen sich artikulieren und vernetzen. Sie nennen sich #deconstruct, #exvangelical oder #unfollow. Auch bei ihnen hat in Krisensituationen der christliche Glaube vor allem in seinen evangelikalen Spielarten keine Stütze mehr geboten. Das Infragestellen von Glaubenssätzen ist im evangelikalen Milieu nicht sonderlich beliebt. Selbst dann nicht, wenn diese Fragen von Menschen gestellt werden, die sich in existenziellen Krisen befinden und zweifeln. Die meisten Betroffenen wenden sich dann sukzessive vom Glauben ab und nur wenigen gelingt es, sich dann in die christliche Welt wiedereinzufinden. Viele werden Atheisten oder Agnostiker. Das kann ich gut nachvollziehen, wäre ich doch fast auch in diese Richtung gegangen. Noch heute habe ich große Sympathien für Atheismus und Agnostiszismus, kann aber deren gedankliche Wege nicht oder besser nicht mehr mitgehen.

So definiere ich meinen christlichen Standpunkt sukzessive neu. Da darf ich auch gerne etwas ausprobieren. 

Mir sagt die Frömmigkeit im orthodoxen Bereich sehr zu: Der Ikonenverehrung, dem Herzensgebet, dem Tschotki und dem herrlichen Gesang der Liturgie. Aber als ich mich der dahinter stehenden Instution näherte, stieß mich der antimodernistische Kurs der meisten verfassten orthodoxen Kirchen ab. Zudem habe ich mittlerweile eine Aversion gegen Dogmen, die ich unhinterfragt verbindlich zu glauben habe.

Aber auch Phänomene der katholischen Kirche finde ich spannend. So entdecke ich die Lectio Divina und das kontemplative Gebet. Aber katholisch werden? Warum denn das. Auch da begegne ich einer dogmatischen Bindung und einer fragwürdig gewordenen Hierarchie.

Zurzeit beschäftige ich mich mit den Praktiken des Zen-Buddhismus und wie sich das mit dem christlichen Glauben verträgt. Gut möglich, dass ich das auch verwerfe, aber hier können für mich Brücken geschlagen werden zwischen der Stille der Kontemplation und der Herausforderung des Evangeliums. Ich bin ein Mystiker.

Gleichzeitig wende ich mich der historisch-kritischen Methodik im Bibelverständnis zu. Ich kann und will nicht mehr den Verstand ausschalten, wenn ich mich mit dem zentralen Text des christlichen Glaubens beschäftige. Gott hat mir den Verstand gegeben, damit ich ihn nutze. Warum sollte ich da mit einem eindimensionalen Verständnis an die Texte herangehen? Viele der Dogmen, die ich in den letzten 20 Jahren gelernt habe, sind fragwürdig. Und ich lebe in einer rational geprägten Welt.

Das könnte ich jetzt noch fortsetzen, würde aber den Rahmen sprengen. Ich bin - wie gesagt und betont - auf dem Weg zurück. Wo ich im christlichen Milieu lande, weiß ich noch nicht. Es wird aber definitiv anders sein als meine Zeit früher in der Elim-Kirche. Ganz anders. Fest steht, dass ich für meine Person mit dem evangelikalen Christsein, wie es in Pfingstgemeinden, freien Gemeinden oder ähnlich orientierten Gemeinschaften nicht mehr viel anfangen kann. Das ändert freilich nichts daran, dass ich für viele Menschen, die ich dort kennengelernt habe tiefen Respekt empfinde für ihren Glauben. Aber ich gehe da nicht mehr mit.

Mein Weg ist ein anderer.


Wenn einer es heute fertig bringt,
mit diesem unbegreiflichen, schweigenden Gott zu leben,
den Mut immer wieder neu findet, ihn anzureden,
in seine Finsternis glaubend, vertrauend und gelassen hineinzureden,
obwohl scheinbar keine Antwort kommt als das hohle Echo der eigenen Stimme,
wenn einer immer wieder den Ausgang seines Daseins frei räumt
in die Unbegreiflichkeit Gottes hinein,
obwohl er immer wieder zugeschüttet zu werden scheint
durch die unmittelbar erfahrbare Wirklichkeit der Welt,
ihrer aktiv zu meisternden Aufgabe und Not
und ihrer immer noch sich weitenden Schönheit und Herrlichkeit,
wenn er dies fertig bringt ohne die Stütze der „öffentlichen Meinung“ und Sitte,
wenn er diese Aufgabe als Verantwortung seines Lebens
in immer erneuter Tat annimmt
und nicht als gelegentlich religiöse Anwandlung,
dann ist er heute ein Frommer, ein Christ.....

- aus: Karl Rahner, Frömmigkeit früher und heute (1965)






Montag, 12. Juli 2021

 

Nachtgedanken über den Glauben

Diesen Text schreibe ich schlafloser Nacht.


Es sind jetzt ein paar Wochen ins Land gegangen, seitdem ich damit begonnen habe, mich wieder dem (christlichen) Glauben zuzuwenden. Ich kann dabei feststellen, dass mir die bekannten Aussagen und Inhalte näher stehen als so manches, was mir auf meiner spirituellen Reise der letzten eineinhalb Jahre begegnet ist. Da kann ich nicht aus meiner Haut, die christlich eingefärbt und geprägt ist.

Aber worin besteht der Glaube für mich?

Ist nicht schon die Frage "für mich" eine Abschwächung des Bekenntnisses? Das kann durchaus sein. Gleichwohl finde ich hierin einen Zugang zur Welt des Glaubens, der zu mir passt. 

In den alten Formen, wie ich sie noch bis vor fünf Jahren gepflegt habe, finde ich mich nicht wieder. Diese Formen sind: Sonntags geht es in den Gottesdienst, dort treffe ich die Gemeinde. Also sitzen oder stehen wir zusammen, singen die Lieder aus der Lobpreisliste ab, verdrehen vor Entzücken die Augen, hören uns das eine oder andere Erbauungsstück an, schließlich kommt die Predigt, die wieder einmal zu Jüngerschaft, Dienst und Nachfolge auffordert, anschließend Kollekte, Gebet und Schluss. Es war ein Zeitabsitzen, bis endlich das Ende erreicht war. Gelegentliche Blicke in die Publikationen meiner alten Gemeinde haben mir gezeigt, dass sich an diesem Schema auch nicht viel geändert hat.

Das alles passte mir vor zehn Jahren so wenig wie vor fünf Jahren. Bedingt durch Krankheit und dann Corona sind diese Sonntagtermine in den Hintergrund getreten. Ich vermisse sie nicht, oder besser: kaum.

Einige Menschen meinen, dass die christliche Gemeinschaft doch trägt, hält und in den Krisen des Lebens Halt gibt. Das ist das Idealbild. Aber bei mir war das anders. Als ich vor vier Jahren (2017) infolge der Krebsbehandlung ins Krankenhaus gehen sollte, wurde meiner Familie für die Zeit meiner Abwesenheit praktische Hilfe fest zugesagt. Beruhigt fand ich mich im Krankenhaus ein. Aber dann erfuhr ich, dass diese Hilfe dann doch nicht geleistet werden konnte. Es fand sich einfach niemand, der das übernehmen wollte, nicht einmal der Pastor, der das organisieren wollte, fand die entsprechende Zeit. OK, das musste ich zur Kenntnis nehmen. Als Mitglied der seinerzeitigen Gemeindeleitung hatte ich den "Kreis der Brüder", die zusammenstehen wollten, was damals die "Ältesten" waren. In den Wochen im Krankenhaus gab es von dort allerdings auch kein Zeichen, keine Nachricht, nichts. Die Leitung der Gemeinde war einfach zu beschäftigt, um sich um die Kranken zu kümmern. An dieser Stelle begann mein persönlicher Entfremdungsprozess von der Gemeinde, der ich seit 2001 angehört hatte.

Ich rede dabei nicht von den vielen Menschen, die mir aus der Gemeinde bekannt waren und mit mir durch soziale Medien verbunden geblieben sind. Deren Anteilnahme, Gebet und Feedback haben mich seither begleitet und waren bzw. sind mir eine Stütze. 

Kurzum: Die alten Formen sind passé.

Aber welches Fahrzeug fährt mich sozusagen zurück in den Glauben? Was ist die Form, die zu mir passt?

Ich befreie mich vom Dogmatismus der Vergangenheit. Ein Fehler in der alten Zeit war es, dass ich den Glauben in ein Dogmenkorsett eingezwängt hatte. Das fiel mir als Jurist nicht schwer. Dieses Korsett aber machte aus dem Glauben selbst eine Rechtsordnung, wodurch das Lebendige allmählich erstickte. Glaube soll doch lebendig sein. Darum kippe ich die Dogmen über Bord, sie haben mir nicht geholfen.

Statt dessen rückt das Sinnliche, Erlebbare, Fassbare in den Vordergrund: Die entzündete Kerze, die zugleich ein Gebet ist. Der aufsteigende Weihrauch, der die Welt der Menschen mit dem Himmel in Berührung bringt. Die Ikonen, die die Fenster zur Realität der göttlichen Gegenwart sind. Die Liturgie, die das, was immer gilt, in unsere heutige Zeit überträgt. Die Musik, die den klassischen Formen christlicher Musik in Europa folgt und die durch die Generationen den Glauben an den dreieinigen Gott feiert. Das persönliche Gebet, das sowohl klassisch mit eigenen Worten, oder klassisch mit formulierten Texten gebetet wird. Das Gebet, das durch einen Gegenstand wie etwa einem Rosenkranz unterstützt wird. Aber eben auch das wortlose Gebet, das aus Gesten oder auch nur aus dem stillen Dasein bestehen kann. In alledem nähere ich mich der Gegenwart Gottes - und Er nähert sich mir. Die von mir im letzten Posting erwähnte Beziehung zum DU des Glaubens kann hergestellt werden.

Gott ist überall. Seine unsichtbare Gegenwart erfüllt diese Welt. Seine vergebende und erfahrbare Liebe ist mir immer nahe. Dennoch ist er unbegreiflich, nicht einzufangen und unverfügbar. Gerade dies Letzte hat mich in den letzten Jahren an den Rand des Glaubens, ja auch darüber hinaus gedrängt. 

Ehrlich gesagt mische ich dabei durchaus einige der Erkenntnisse, die ich in den letzten Jahren gesammelt habe mit Versatzstücken der christlichen Konfessionen, wie ich sie kennen gelernt habe. Da findet Orthodoxes, Katholisches und Evangelisches gleichermaßen Platz. Ich stehe dazu. Nennt es Patchwork-Glauben von mir aus. Doch das ist der Weg, den ich gehe.

Endlich gehe ich meinen eigenen Weg der Nachfolge Jesu.

Und was ist mit meiner Gesundheit?

Offen gestanden: Ich weiß es nicht. Meistens fühle ich mich den Umständen entsprechend gut. Oftmals muss ich mich erinnern oder daran erinnern lassen, dass ich krank bin. Nur in meinem Körper finde ich mich wieder nicht zurecht. Ich fühle mich mit ihm unsicher und weiß nicht, was ich mir zutrauen darf und kann. Die Therapie ist angelaufen, wie sie letztlich läuft, ob sie erfolgreich ist, kann ich nicht sagen. Das wird erst ein Arztgespräch ergeben, das in den übernächsten Woche angesetzt ist. 

Zudem hat sich in meine Gedanken eine tiefe und existenzielle Angst eingegraben, die einfach nicht gehen will oder die immer wieder kommt. Sie speist sich aus Bemerkungen von Ärzten aus den letzten Wochen, dem Port, den ich unter der Haut trage, den Ereignissen der letzten Wochen. Zudem registriere ich den dritten Sterbefall in meiner Verwandtschaft seit Beginn des Jahres und das kürzlich Ableben eines Krebskameraden, den ich seit vier Jahren mitverfolgt habe. Dass ich heute Nacht keinen Schlaf finde, gehört zu den Auswirkungen dieser Angst.

Körperlich geht es also mit Einschränkungen akzeptabel, psychisch bin ich ziemlich angeschlagen.

So ist es also. Mal sehen, wie es weitergeht. 


Dienstag, 1. Juni 2021

 

Mein Glaube und Krebs

(Es kommen auch drastische Formulierungen vor.)

Ja, es ist so. Mein (christlicher) Glaube ist durch die Krebserkrankung ziemlich unter die Räder gekommen. In den letzten eineinhalb Jahren ist da einiges auseinandergelaufen. Ich musste ja einiges durchmachen: 2020 begann für mich mit vier Wochen Krankenhaus, weil ich Gürtelrose mit anschließender Sepsis (Blutvergiftung) bekam. Beides sind Folgeerkrankungen meines defekten Immunsystems. Und dass das Immunsystem defekt ist, habe ich dem Multiplen Myelom (MM) zu verdanken.

Diese Krebserkrankung ist nun einmal heimtückisch. Sie ramponiert mich auch, wenn sie gerade nicht aktiv ist. Und nun ist sie halt wieder da und bedroht mich an allen möglichen Ecken und Enden meines Lebens. Degenerierte Halswirbel, ein miserables Blutbild, zu viele entartete Proteinketten... Kein Zuckerschlecken.

In der Zeit nach der ganz heißen Phase 2017 verfiel unter dem Eindruck der MM-Geschehnisse mein Glaube zusehends. Die Entfremdung von meiner damaligen Gemeinde wuchs, auch waren nicht alle Erwartungen, die in mir geweckt worden waren, erfüllt worden. Als es im Sommer 2017 ganz besonders dringend wurde (ich musste zur Stammzellentransplantation und Hochdosistherapie ins Krankenhaus), fiel die fest zugesagte tatkräftige Hilfe von Menschen aus der Gemeinde einfach aus.  Ansonsten kein Besuch, keine spürbare Anteilnahme - "kein Nix, kein Garnix" wie meine Mutter zu sagen pflegte.

Das hat schon Eindruck auf mich gemacht. Keinen guten.

2018 habe ich an einem Seminar von "Christen im Gesundheitswesen" teilgenommen. Das war eine gute Veranstaltung, in der wir an einem Abend mit anderen Menschen beten durften. Mein Gebetsanliegen seinerzeit hat mich überrascht: "Ich will Gott vergeben". Das ist natürlich theologisch nicht korrekt, für mich war es aber wichtig, das so zu formulieren. Nach dem Gebet war ich immer noch überrascht - aber die Zeit danach erwies, dass ich "Gott" nicht vergeben hatte.

Statt dessen hatte ich einen Schuldigen gefunden für die Krankheit meines Lebens.

Und dieser Schuldige ist Gott.

In seiner Allmacht und Weisheit, grenzenloser Güte und Barmherzigkeit, Allwissenheit und sonstigen Attributen hatte Er diese Krankheit zugelassen. Nicht verhindert. Mich damit geschlagen. Die Zellteilungsanmomalie, die wir "Krebs" nennen, in seine "sehr gute" Schöpfung  hineingelassen, vermutlich weil er gepennt hat oder anderweitig beschäftigt war. Oder Er ist ein Sadist, der sich an meinem und anderer Menschen Leiden erfreut. Ad maiorem Dei gloriam.

Klar: Jetzt konnte ich Gott in seinen riesigen Hintern treten. Der Schuldige war ausgemacht. Und wie konnte ich Gott am besten für seine Untaten bestrafen? Durch Aufgabe des Glaubens. "Gottes beste Entschuldigung für das Leid ist seine Nichtexistenz." Diese Straße führte direkt in den Atheismus. Und je länger ich nachdachte, desto plausibler wurde es für mich: Kein Gott, keine Religion, einfaches Eingestehen, dass in dieser Welt eben nicht alles perfekt ist.

Und mein Tod? Akzeptiert.

Kein Weiterleben in der Ewigkeit? Ist eben so. Wenn es aus ist, ist es aus.

Kratzt mich alles nicht.

Warum befand ich mich also auf dem Weg in den Atheismus? Weil ich diesem Gott eins auswischen wollte.

Das habe ich auch veröffentlicht. 

Von einigen Christen bekam ich Gedanken auf den Weg.

Einer schrieb, dass mit dem Heil nicht körperliche Heilung verknüpft ist und dass mein Gottesbild falsch wäre. Sorry, das war und ist in der Situation nicht hilfreich. Einerseits hatte ich infolge der Krankheit durchaus gute Gründe, an der Güte und Liebe Gottes zu zweifeln. Zweitens hatte ich überhaupt kein Gottesbild mehr. Entweder ist Gott ein Sadist (Provokation) oder - wahrscheinlicher - es gibt keinen Gott (Behauptung).

Eine andere schrieb einen wilden Text. Darin enthalten waren diverse Bibelverse und die Aufforderung, ich möge mich doch jetzt gefälligst und sofort der "Bibel" unterordnen. Meine Klage wäre nicht biblisch, offene Rebellion, meine Ausführungen über (den für mich nicht existierenden) Gott schlimm. Unterordnen, aber schnell. Ich quittierte diese Ausführungen mit der Anmerkung "Jeder Satz eine christliche Keule", was die Verfasserin dazu veranlasste, den Kontakt mit mir zu beenden mit den Sätzen:

Matthäus 10:9. Die Jünger schütteln sich die Unreinheit der Menschen, die nicht hören wollen, von den Füßen. Jesus benutzt hier ein Bild, die Verwendern des Zitats nimmt das ganz wörtlich: Aus ihrer Sicht bin ich Dreck, mit dem sie sich nicht mehr befassen möchte.

"Und tschüß, Stefan Wartisch. Manchmal muss man den Staub von seinen Füßen schütteln. Tu ich gerade. Mach dir keine Mühe, zu antworten. Ich bin raus."

Zum Glück waren diese beiden Beispiele absolute Ausnahmen: Einmal nicht hilfreich, einmal aggressiv. Schön waren für mich die vielen Zuschriften, die mir trotz der drastischen Worte nicht die Freundschaft aufkündigten. Im Gegenteil: Sie nahmen wirklich Anteil an meiner Situation, was sie zum Gebet veranlasste. Jedenfalls wurde mir das in vielen Zusendungen zugesichert. Es gab auch hilfreiche Tipps und Verständnis für meine Klage. Ein christlicher Freund schrieb mir, dass er "immer" für mich da ist, wenn ich ihn brauche. Manche schrieben mir auch, dass sie sich einfach eine Umarmung für mich wünschen, eine Umarmung von Gott.

Es war etwas Neues: Ich erlebte mit einem Male wieder Gemeinschaft. In dem Loch, in dem ich saß, war wieder etwas zu spüren davon, mit Menschen zu sein, die ermutigen, stärken, nicht aufgeben, nicht anklagen. Nicht anklagen. Sie gingen mit mir nicht den Weg, auf schon die Freund Hiobs hereingefallen sind, sondern den Weg des Mitgefühls.

Als ich vor ein paar Tagen meine Port- OP in der Schön-Klinik Eilbek hatte, fiel mich auf dem Weg dorthin etwas ein: "Wäre schön, jetzt ein Gegenüber zu haben, ein DU". Na klar, es gibt Menschen, die mich auch in die OP hätten begleiten können: Meine Frau, mein Bruder und viele liebe Freunde, Christen wie Nichtchristen. Das war aber nicht das, was mir fehlte. Das DU, das mir fehlte, ist das DU, das "immer" da ist. Ansprechbar, zuhörend, antwortend, dialogisch. Das DU, das Martin Buber so schön beschrieben hat.

Das DU ist Gott. Zum ersten Mal seit langer Zeit war da das Bedürfnis da, mit dem DU wieder zu leben.

Die buddhistische Phiosophie lehrt, falsche Vorstellungen loszulassen, sich von Täuschungen befreien und offen zu werden. Komischerweise passt dies sehr gut zu meiner Erfahrung, dass dieses Bedürfnis nach dem DU stärker wurde als die Ablehnung des Gottes, den ich in meinem Bedürfnis nach einem Sündenbock für mein Lebensunglück abgeschafft hatte - ohne ihn je ganz loslassen zu können.

In einem Gespräch, das ich gestern mit einem wirklich sehr guten Freund über das Thema geführt hatte (wir sprachen fast vier Stunden sehr tief miteinander) ergab für mich die Erkenntnis, dass ich in einer Grube sitze und mir durch andere Menschen Rettungsseile zugeworfen werden. Ich darf eines oder mehrere nehmen und mich herausziehen oder herausziehen lassen, um diesem DU wieder zu begegnen.

Ebenso wichtig wurde für mich der Gedanke, dass dieses DU auch ein gewaltiges Geheimnis ist, das jenseits unserer Vorstellungen und Logik ist. In der Ostkirche vermittelt sich das DU unter anderen durch die Ikonen, in denen wir das Du durch die Darstellung erfahren - und das DU in der nicht fassbaren Welt uns sieht. Die Bibel fasst das in Johhannes 1:18 in den Vers "Niemand hat Gott ("DU") je gesehen (Geheimnis); der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist (Jesus, DU), der hat es verkündigt." 

Dieser Gedanke lässt mich nun nicht mehr los. "DU" finden und suchen. Keine Anklage gegen DU, kein Sündenbock mehr für mein Leben. Einfach das "DU".

Und was ist mit den Erklärungen? Was ist mit meinen Anklagen? Was ist mit dem "Gott - WARUM die Krankheit?" 

Gott bleibt ein Geheimnis, mit dem der Glaubende leben muss, wie es der katholische Theologie Karl Rahner formulierte. Es bleibt aber das Vertrauen auf Jesus Christus, in dem die Liebe dieses "DU" zu seiner Schöpfung und zu den Menschen Gestalt geworden ist. Ist also der Weg Gottes mit mir, so es Gott gibt, ein Weg der Liebe? Vielleicht. Wahrscheinlich. Kann schon sein. Oder Ja.

Ich hatte an anderer Stelle bereits geschrieben, dass die Tür zum Glauben von mir nicht ganz zugeschlagen ist. Einen spaltweit war sie offen. Und es scheint, dass sich da jemand hineingezwängt hat. 

Daher bleibe ich "dran".



Montag, 10. Mai 2021

 



Myelom - 2. Teil



Ich musste mich als Myelom-Patient darauf einstellen, dass der Krebs mit dem Erreichen der Remission im Juli 2017 nicht vorbei ist. Eine der Eigenarten des Myeloms ist seine Unbesiegbarkeit. Es kommt also wieder. Darauf war ich eingestellt.


Mitte Februar hat mir meine Onkologin eröffnet, dass die Lamda-Leichtketten stark gestiegen seien. Das sind Proteinverbindungen, die eine Aussage über den Status meines Blutproteins zulassen. Normalerweise sind knapp 20 Mikrogramm ok. Bei mir aber war der Wert zu diesem Zeitpunkt bei knapp 1000 Mikrogramm. Mir war sofort klar, was das heißt: Rezidiv, also der Rückfall in die Krankheit.


Anfang März wurde ich in die Onkologische Ambulanz des UKE zu einer der renommiertesten Spezialistinnen Deutschlands in Sachen Myelom empfohlen. Nach diversen Tests kam auch Frau Professor zu dem Befund: Rezidiv, beginnend.


Wenn ich das zusammenfasse, dann hatte zu diesem Zeitpunkt der Rückfall in die Krankheit gerade begonnen. Ein wesentlicher Wert allerdings war noch einigermaßen ok: Der Wert, der die krebsbedingte Gewebezerstörung anzeigt. Bei Myelom-Patienten wäre das v.a. die Auflösung der Knochensubstanz. 2016/17 hatte sich dort ja der Krebs das erste Mal mit den Horrorschmerzen in der linken Schulter inklusive Brüchen gezeigt. 


Ich bin also schmerzfrei. Alles palletti? Leider nein. Die Ausbreitung des Myeloms hat diesmal offensichtlich extreme Blutarmut (Anämie) zur Folge. Mein Körper produziert also zu wenig Hämoglobin, sodass ich unter extremer Kurzatmigkeit und hohem Puls leide. Ein hartnäckiger Reizhusten kommt noch hinzu.


Das also ist die Lage.


Jetzt warten noch ein paar Untersuchungen auf mich. Das Herz, die Lungen müssen auf ihre Kapazitäten hin begutachtet werden. Praktischerweise gibt es in Corona-Zeiten keine  freien Lungenarzt-Termine mehr.


Doch gesetzt den Fall, ich kann bald starten, dann geht es am 31. Mai wieder los mit einer Antikörpertherapie. Das ist sozusagen die modernere Variante der Chemotherapie. Für die noch modernere Immuntherapie kam ich leider nicht in Frage. 


Es wird also abermals sportlich.


Ich habe auch etwa gezögert, die Lage zu posten. Meine Tochter schreibt gerade ihr Abitur und da wollte ich mit der schlechten Information warten, bis sie wenigstens die Klausuren hinter sich hat. Das ist halt immer das Dumme: Wenn man Angehörige hat, die man mit einer solchen besch… Nachricht konfrontieren muss.


In den Reaktionen vieler Menschen, die ich insbesondere noch aus vergangenen Zeiten in der christlichen Gemeinde kenne, kamen viele liebe Reaktionen auf meine Lage. Viele beten für mich oder gedenken meiner im Gebet. Sie proklamieren Gottes Heilung für mich. Ich danke allen, die das so machen. Das sind sehr liebe Gesten, die mir viel bedeuten.


Aber: In den letzten Jahren ist mir dieser Glaube irgendwo abhanden gekommen. Zwischen Therapien, erneuten Infektionen und mit dem Wissen, dass der Krebs wiederkommen wird, kam der Zweifel an einen Gott, der alles in der Hand hat, mit Macht über mich. „Und wenn ich jetzt sterben muss und dann ist alles vorbei.“ war ein Gedanke. Meine Antwort: „Dann ist das eben so und ich habe die Krankheit dann hinter mir.“ hat mich wirklich getröstet.


Meine Übung ist seither, die radikale Annahme meines Schicksals. Leben mit dem Krebs. Das Myelom als Bestandteil meines Lebens zu akzeptieren. Einen anderen Weg gibt es da für mich nicht mehr. Und schließlich durch meditative Achtsamkeit das Leiden, das mich getroffen hat, zu transformieren. Hört sich komisch an, hilft mir aber.


Zuweilen kommen mir die Erinnerungen an mein altes Leben wieder hoch. An alles das, was ich zurücklassen musste, was unwiederruflich vorbei ist. In der Netflix-Serie „Shtisel“ zitierte der alte Rabbi Shulem Shtisel aus einem Buch des US-amerikanisch-polnischen Schriftsteller Isaac Bashevis Singer die Passage


„The Dead don’t go anywhere.They’re all here. Each man is a cemetery, in which lie all our grandmothers and grandfathers, the father and mother, the wive, the child. Everyone is here all the time.“


Fiat.

Dienstag, 19. Januar 2021

 

Meditation - warum und was?


Ja, ich meditiere. Ich meditiere praktisch jeden Tag, jeweils zwischen 10 und 20 Minuten, meistens ist es eine Viertelstunde. Dazu setze ich mich auf ein Meditationskissen, stelle den Timer, der die Zeit mit einzelnen Gongschlägen strukturiert, setze mich in den burmesischen Sitz und dann wird meditiert.

Was mache ich da eigentlich? Eigentlich mache ich - nichts. Ich versuche jedenfalls, nichts zu machen. Tatsächlich gehen meine Gedanken, mein Geist, auf Wanderschaft. Ich brauche ungefähr fünf Minuten, bis sich meine Gedanken einigermaßen beruhigt haben. Dazu versuche ich, immer wieder zu meiner Atmung zurückzukehren, gerade wenn sich die Gedanken zu verselbständigen suchen. Nach fünf Minuten gehe ich dann für weitere fünf Minuten gedanklich durch meinen Körper, von ganz unten bis nach ganz oben. Dabei nehme ich jede Körperregion einzeln wahr, d.h. ich konzentriere mich auf sie. In der anschließenden Zeit nehme ich meine Umgebung wahr, indem ich die Geräusche höre - ohne sie indessen als störend oder angenehm zu bewerten. In den letzten Minuten vor dem finalen Gong dann bin ich tatsächlich meistens dabei, meinen Atem wahrzunehmen. Ich zähle dann die Atemzüge von eins bis zehn, bin ich bei zehn angekommen, fange ich wieder mit eins an. Der finale Gong beendet dann meine Meditationszeit.

So weit, so unspektakulär.

Warum mache ich das? Ich sammle mich zu Beginn des Tages, spitze meine Gedanken und trainiere außerdem, meinen Geist im Laufe des Tages immer wieder in die Gegenwart zurückzuführen. Was nützen die Gedanken über die Vergangenheit? Was die Sorgen um die Zukunft? Jetzt und hier ist das Leben. Dies wahrzunehmen, hier anzukommen, darum geht es mir. 

Ich darf auf dem Schneckenhaus selbstgewählter Ängste und Problemen hinaus und mich dem Leben so stellen, wie es in Wirklichkeit ist. Die Phänomene verlieren ihren Schrecken und reduzieren sich auf die Gegenwart. Und wenn ich in dieser Corona-Zeit nicht nach draußen gehen darf, dann gehe ich eben nach innen.

Kürzlich habe ich bei Facebook ein Bild eingestellt, das einen meditierenden Menschen in stilisierter Form zeigt. Das reizte einige Christen zum erheblichen Widerspruch. Ich frage mich: Warum? Ist christlicher Glaube so eng, dass er es nicht erträgt, wenn Menschen in der Meditation zur Ruhe kommen? Hat Gott etwas gegen Achtsamkeit? Oder reizt ein solches Bild so sehr, dass der eigene Glaube herausgefordert wird, dass man ihn sich in aggressiver Weise vergewissern muss?

Mir gleich. Es zählt nicht, was andere Menschen denken, wenn sie das Bild eines meditierenden Menschen sehen. Es zählt nur der Augenblick, in dem ich die Gegenwart wahrnehmen kann.