21. Oktober 2017 (Sonnabend)
Es war ein harter Absturz. Ich kam aus der Reha in Ratzeburg. Dort war ich in einem Sport-Förderprogramm. Morgens, mittags, abends….immer Sport, Sport, Sport. Jeden Tag im September konnte ich feststellen, wie ich fitter wurde. Das Körpergefühl war wieder da. Zum Bäumeausreißen stark. Und dann folgte gleich am 29. September: Die Konsolidierungschemo fängt an.
Der starke Mann war wieder ein kranker Mann geworden. Das zehrte nicht nur an meinen körperlichen Kräften, auch die Seele brauchte viel Zeit, sich dieser neuen Herausforderung zu stellen. Es war also Talzeit, die abrupt auf die Bergzeit folgen sollte.
Dennoch war nicht alles umsonst: Ich bin tatsächlich auf den Geschmack gekommen: Sport. Zudem durfte ich in diesen Wochen seit Start der Therapie feststellen, wie ich mit den unausweichlichen Nebenwirkungen wesentlich besser klarkomme als noch im Winter und im Frühjahr. Der Blutdruck ist erstaunlich stabil geblieben, auch die Erschöpfungszustände sind deutlich reduziert.
Darf ich es also wagen, die Sportschuhe zu schnüren - und Sport zu treiben? Mit Kortison, Elotuzumab, Lenalidomid und Bortezomib im Blut?
Also habe ich die Fachfrauen gefragt: Meine behandelnden Ärztinnen. Die Antwort fiel unisono aus: Na klar, soweit sie sich das zutrauen, machen sie viel Sport.
Ich bin zudem in Gesprächen mit meinem Psychoonkologen, der meinen Weg durch die Krankheit gut begleitet. Und er riet mir dringend, meine sportlichen Vorhaben so schnell wie möglich umzusetzen.
Also passierte, was ich mir nie zugetraut hätte: Ich betrat das Sportgeschäft von Ulf Lunge mit klarer Kaufabsicht.
Ulf Lunge
Das ist eine Institution unter den Hamburger Sportgeschäften. Als einer der ersten Sportschuhläden verkaufte man dort die Schuhe nicht nur, man beriet die Käufer sogar, welcher der optimale Schuh ist.
Ich geriet an einen freundlichen, leicht introvertierten Verkäufer. Im Gegensatz zu meinem letzten Besuch des Ladens vor fast 20 Jahren war bei diesem Menschen keine Spur von Arroganz erkennbar. Mit meinem Körperbau sehe ich nicht so aus, als wenn ich vorhätte, beim nächsten Marathon zu starten. „Ich bin übergewichtig und Laufanfänger. Haben Sie einen Schuh für mich?“ So in etwa startete das Gespräch.
Er bat mich, einige Schritte auf Markierungen zu gehen. Das durfte ich sechsmal wiederholen. Dann wurde ein Bild von der Stellung meiner Füße am Computer erstellt. Aha: der rechte Fuß rollt sehr stark über die Ferse innen ab, der linke etwas weniger ausgeprägt. Soso. Dann durfte ich ein paar Sprints durch den Laden hinlegen - unter den wachsamen Augen des freundlichen Verkäufers. „Was laufen Sie denn?“ wollte er wissen. „Nun ja, zur Zeit 20 Minuten Intervalltraining: 10 Minuten Laufen, 10 Minuten Gehen., jeweils im minütlichen Wechsel. Aber das Ziel ist: 30 Minuten am Stück durchlaufen.“
Dann durfte ich etwas auf einem Laufband laufen. Dabei stellte ich mich - Bewegungslegastheniker - extrem ungeschickt an und fast wäre ich hingefallen. Der Verkäufer schaute dabei freundlich zu und zeigte mir dann die Analyse der Computers: „Oh, so sieht also die Slowmotion meines Laufes von hinten aus.“ Aber nun war klar, welche Art Schuhe auszusuchen war.
Er brachte mir ein Paar, fummelte Spezialeinlagen einen (zur besseren Dämpfung und Stabilisierung der Füße) und hieß mich, diese anzuziehen. Die saßen ganz bequem - und dann durfte ich wieder einige Sprints durch den Laden laufen. Es folgten noch zwei weitere Paar zum Anprobieren, wir testeten den Sitz auf Herz und Nieren - dann endlich war das Paar gefunden, das ich nehmen wollte. Auch dies wurde noch einmal im Sprint erprobt.
Top Beratung! Ohne Beratung hätte ich irgendein billiges Paar gegriffen und mir alle Gelenke und Füße ruiniert.
Und der Preis? Ich hätte im Internet für dieses Paar Schuhe denselben Preis zahlen müssen - aber ohne Beratung. Mir war es so wesentlich lieber.
Die ersten Runden.
Und nun laufe ich fast jeden Morgen meine Runden um den Kupferteich bei uns in Farmsen: 1 Minute Laufen, 1 Minute Gehen, 1 Minute Laufen….. usw. Dabei mache ich die Feststellung, dass die Leistungskurve wieder nach oben geht. Treffe ich auf „richtige Läufer“ schaue ich mir deren Technik an.
Es gibt die Plattfußläufer, bei denen jeder Schritt auf dem Untergrund zu hören ist. Platsch, Platsch, Platsch…. Es gibt die Leichtfußläufer, die so elegant aufsetzen, dass ihre Schritte nicht zu hören sind. …. Und es gibt die ökonomischen Läufer, die mit sparsamen Bewegungen, aber sehr kontinuierlich ihr Tempo laufen. Das kann ich mir am ehesten für mich vorstellen.
In der Dämmerung wäre ich fast von einer Radfahrerin angefahren worden. Sie hatte mich wohl nicht gesehen und ich war zu schnell. Mit einem dunklen Anzug wird man nicht so gut gesehen. Also laufe ich jetzt in grellgelb reflektierend. Damit werde ich auf jeden Fall bemerkt. Das Kostüm sieht eigenartig aus, das ist nicht die Farbe, die ich tragen kann - aber rettet meine körperliche Unversehrtheit.
Was denken die Leute eigentlich, wenn ich mit meinen fast 100 KG um den Teich laufe, gehe? Das ist mir schnurzegal. Sollen sie denken, was sie wollen, ich ziehe das durch. Es macht einfach zu viel Spaß - und zahlt auf das wichtigere Ziel ein: Die Wiederherstellung von Gesundheit und das Gewinnen von Kraft, um die Chemotherapie, die noch kommen werden durchzustehen.
Denn darum geht es: Es ist die Fortsetzung meines Kampfes gegen die Krankheit auf einem anderen Gebiet. Und auch wenn ich weiß, dass die Krankheit womöglich stärker sein wird als ich: Kampflos räume ich das Terrain nicht! Da muss sich das MM schon etwas anstrengen, finde ich.
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Das neue Sportgerät. |
Remission
Das ist das Stadium der Krankheit, das ich nun erreicht habe. Die letzte Knochenmarkspunktion hat das ergeben und ich hoffe inständig, dass das auch so bleibt. Remission heißt nicht, dass die Krankheit endgültig besiegt ist. Der Begriff sagt nur, dass die Krankheit nicht mehr nachweisbar ist und deshalb keinerlei Aktivität erkennbar ist.
Auf Remission folgt dann in der Regel das Rezidiv (Rückfall). Beim MM ist das 2-3 Jahre im Mittelwert. Meine Therapie endet planmäßig in gut 2 Jahren und hat das Ziel, den Zeitpunkt für das Rezidiv weit nach hinten zu verschieben.
In Ratzeburg habe ich eine Frau von Mitte 40 kennengelernt, die auch MM hatte. Für sie war nach der Stammzellentransplantation Schluss, weshalb sie sich wunderte, dass es mit mir jetzt noch weitergeht. Da kam kurz bei mir der Gedanke auf, aus meinem Vertrag mit dem UKE auszusteigen und die Therapie an genau dieser Stelle zu beenden. Aber das war nur ein Gedanke: Ich lasse mich von dem Ziel, die Therapie zum Abschluss zu bringen und dem Rezidiv zu trotzen nicht abbringen lassen!
Etwas, das ich durch die Krankheit gelernt habe: Ich denke, plane und handle deutlich zielorientierter als vorher. Dabei überschreite ich Grenzen, die ich bislang für mein Leben als gezogen angesehen haben. Jede Grenzüberschreitung bringt mich weiter an das große Ziel.
Gott in der Tiefe
Mit den Instantheilern, die sich auf dem christlichen Markt, Abteilung Charismata, tummeln, kann ich nullkommagarnix anfangen. Firlefanz, Bauernfängerei, Scharlatanerie, Manipulation… Das ist mein (natürlich ganz subjektiver) Eindruck, den ich von dieser Szene gewonnen habe. Sie beten einen Schnupfen weg, „verlängern“ ein paar Beine und lassen sich Zeugnisse geben über das sofortige Verschwinden von psychosomatischen Beschwerden und „inneren Verletzungen“ - so schön das für die Betroffenen dann auch ist - aber mit ernsthaften Krankheiten haben sie ihre Probleme.
Nein - ich glaube ihnen nicht.
Glaube ich denn, dass Gott mich heilt? Dass Er mich heilen kann?
„Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe lügt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt (Jesaja 53:5).“
Ich vertraue darauf, dass Jesus meine Heilung ist, ganz egal, ob sich diese Heilung auch auf meine körperliche Heilung auswirkt oder nicht. Wer sich im Gebet an Jesus wendet, der ist schon geheilt. Aus der Erfahrung der letzten acht Monate Chemotherapie und Stammzellentransplantation und erneute Chemotherapie kann ich mit Freude sagen, dass ich diesen Weg ohne Jesus nicht hätte gehen können. Es steckt halt viel mehr Kraft und Heilung im Glauben an den Gottessohn, die mich die tiefsten Tiefen von Krankheit durchstehen hilft.
Das Instant-Heilungsprogramm mancher christliche Verkündigen mag unterhaltend sein, ich kann damit nichts anfangen.
Jesus gibt Frieden mit Gott - darauf kommt es an.
In diesem Sinne grüßt Euch herzlich Alsterstewart.
Hallo Stefan,
AntwortenLöschenja, wie gut, dass Du Dich in Gottes Kraft getragen weißt.
Und, was die Heilungsveranstaltungen betrifft, da gäbe es einiges zu sagen. Ich habe auch schon einiges an ungesunden Merkwürdigkeiten miterlebt. Ich hab aber selbst auch schon als begleitender Musiker zu solchen mitgewirkt, aber da wusste ich vorher mit ziemlich hoher Gewissheit, dass nichts propagiert werden wird, ehe es nicht wirklich in gesundem Abstand nach der Veranstaltung und stichhaltig geprüft und nicht erfolgs-zahlenorientiert präsentiert werden würde. Es hat aber auch damals Stimmen gegeben, die gesagt haben, dass es ja nicht gerade passend und authentisch vertretbar für solch eine Art Veranstaltung sei, wenn da ein Blinder auf der Bühne auftaucht. Das hat uns aber als Team nicht gestört: sondern wir haben uns über jede Person gefreut, die Besserung oder Heilung erleben konnte. Es gibt ja eben viel beeinträchtigendere und schwerwiegendere Krankheiten als meine angeborne Blindheit, für die ich ja in Mitteleuropa gut unterstützt werde. Vieles ist aber auch zu intim, als dass es öffentlich behandelt werden könnte, und das Eins-zu-Eins-Gebet finde ich immer noch am besten. Wenn nur bei jemandem wirklich etwas geschieht, was alles erträglicher macht, freue ich mich: und dann auch, so derjenige das will, gern mal auf einer größeren Veranstaltung. Auf jeden Fall darf es keine Unterhaltung ohne Wert werden! Grundsätzlich bin ich da aber auch immer noch am Nachdenken.
Dir jetzt auch weiterhin viel Kraft für alles und viele Grüße
Thomas