Dienstag, 26. September 2017


26. September 2017 (Dienstag)

Ratzeburg ist sehr schön. In der eiszeitlichen Endmoränenlandschaft wechseln sich Erhebungen und recht tiefe Seen ab. Um die Seen erreichen zu können, muss man erstmal von den Höhenzügen herabsteigen. Will man von dort in die Stadt oder in die Wohngebiete, muss man wieder hinaufklettern. Das erfordert auch Kondition. 

Die Stadt Ratzeburg selbst liegt auf einer Insel, die den nördlich gelegenen Ratzeburger See vom südlichen Küchensee abgrenzt. Zwei Nebenseen komplettieren das Setting: Der Domsee und der kleine Küchensee, der auch "Spucknapf" genannt wird. Die Stadt wird gekrönt durch den romanischen Dom, der sich auf einem Felsen über der Stadt erhebt und weithin sichtbar ist. Der Stadt selbst merkt man die Verwüstungen des Krieges mit Dänemark Ende des 17. Jahrhunderts an. Damals zerstörten dänische Kanonen die mittelalterliche Stadt. Aus diesem Grund finden wir in Ratzeburg viele barocke Fassaden. Auch die etwas jüngere Stadtkirche St. Petri ist im barocken Baustil gehalten und eine der wenigen Querschiffkirchen in Norddeutschland.

Prädikat für Stadt und Umgebung: Unbedingt sehenswert, wunderschön.

Hier habe ich nun also meine Rehabilitation verbracht.


Blick auf den Ratzeburger Dom

Die onkologische Rehaklinik liegt tief im Süden von Ratzeburg. Sie atmet schwer den Baustil der frühen 70er Jahre. Das heißt: Beton pur. Den Baustil nennt man "Brutalismus" (wirklich!), was aus den französischen Wörtern béton brut (roher Beton) abgeleitet ist
An einigen Stellen lockern Anbauten aus den 90ern den grauen Brutalismus des gewaltigen Komplexes auf. Abweisend? Nun ja: Von außen nicht gerade einladend.

Reha ist nicht Kur. Das habe ich schon am zweiten Tag erfahren. Bei einer Kur wandelt man Wässerchen trinkend durch die Wandelhalle, lässt sich Fangopackungen verabreichen und lauscht den Konzerten, die das Kurorchester im Kurpark zum Besten gibt. Das ist aber keine Reha. Reha heißt: Anwendungen! Und die Anwendungen sind in meinem Fall "autogenes Training", "progressive Muskelentspannung", diverse Seminare und ganz viel Sport. Gaaaanz viiiiiieeel Sport.

So starte ich jeden Morgen vor dem Frühstück mit 20 Minuten Intervalltraining (eine Minute Joggen, eine Minute Gehen im Wechsel). Dann schließen sich im Laufe des Tages Bewegungsspiele an, Wassergymnastik, Walkinggruppe und der "Kraftraum", in dem Ergometer und diverse Muskelaufbaumaschinen zur Verfügung stehen. Und ja: Ich habe das alles mitgemacht. Ich habe mich sogar dabei ertappt, wie ich freiwillig um den Küchensee gewalkt bin. Ganz allein. Niemand hatte mich dazu gezwungen. Gehirnwäsche.

Reha ist also: Boot Camp, jedenfalls die onkologische Reha. 

Verbesserungswürdig ist das Essen. Das kommt aus der Großküche des nahegelegenen riesigen Altenheims - und ist dementsprechend auf Senioren abgestimmt. Salzarm, das Gemüse immer schön zerkocht. Am schlimmsten war für mich ein Nudelmassaker: Als Penne deklarierte Nudeln hatten sich vor meinen Augen bereits in ihre atomaren Bestandteile aufgelöst und erwarteten mich auf dem Teller als ein matschiger Nudelbrei.
OK, da muss man durch. Und das alles, obwohl viel Wert auf gesundes Essen gelegt wird. Einen Schokopudding als Nachtisch? Nicht hier! Statt dessen: Beerenbrei mit fettreduzierter Dickmilch. Na dann.

Und jeder, der hier ist, hat seine Krebsgeschichte. Da sitzt mir heute morgen ein sportgestählter Mittfünfziger gegenüber. Ich hatte ihn beim Intervalltraining kennengelernt. Er joggte mit Leichtigkeit an uns allen vorbei. Beim Frühstück erzählte er von den diversen Sportarten, die er gerne und ausdauernd betreibt. "Jetzt muss ich aber los" sagte er kurz vor neun Uhr. "Wohin?" wurde er gefragt. "Zum Beckenbodentraining" antwortete er. Also: Prostatakrebs. 

Hier sind viele vor allem ältere Männer unterwegs, die alle ein Schicksal teilen: Krebs an der Prostata. Jetzt sind viele inkontinent und müssen zum Beckenbodentraining.

Frauen mit Brustkrebs, einige davon noch mit grotesk angeschwollenen Armen.

Allerlei Menschen mit Lungenkrebs, die sich dann im Raucherpavillon zum Austausch treffen. Auch hier sind die Raucherecken die fidelsten Klönschnackpunkte. Da ist das soziale Leben zu Hause.

Lymphome gehen spazieren mit Knochentumoren.

Ein Aushang im Foyer: "Wer möchte sich mit mir über Multiples Myelom austauschen?" (Ich nicht!)

An einem Morgen saß ich mit einer älteren Frau aus Halle bei Tisch. Leukämie. Mit großem Humor berichtete sie von ihrer Stammzellentransplantation. Sie hat die Stammzellen eines Spenders erhalten, "meine eigenen waren zu kaputt". Und dann: "Ich habe drei verschiedene Hautfarben bekommen: der Rücken war bräunlich, die Oberschenkel schwärzlich und der Rest weiß." Das kam nicht etwa traurig, sondern unter beständigem Gelächter. 

Das Gute: Jeder hier hat seine Krebsgeschichte. Lange Erklärungen sind nicht erforderlich. Und die Erfahrungen, die hier im Raum sind, ähneln sich. Immer: Schock! Akzeptanz! Therapie! Remission! Rezidiv! Therapie! Operation! Bestrahlung! Chemo! .....

Nur wenigen siehst du die Krankheit an. Ja klar, es gibt hier mehr Menschen mit Glatzen oder wieder einsetzendem Haarwuchs. Aber sonst....? Und dennoch: Du siehst nur die Fassade von außen. Viele sind hier wie Potemkinsche Dörfer.

Und wie geht es so psychisch? Och ja.... Heute berichtete mir eine Frau, wie sie sich im sozialen Klima zu Hause allein gelassen fühlte. "Man ist ja als Kranker aus dem Gleichgewicht - und da braucht man andere Menschen, die ihr Gewicht auf die Waage legen, damit man sich wieder einpendelt. Und das wird manchmal vergessen." Hier in der Reha gibt es kein Vergessen der Krankheit. Auch wenn er nicht angesprochen wird, ist der Krebs immer präsent.

Ich treffe tief Traumatisierte, die sich keine Gedanken darüber machen wollen, dass der Krebs ihnen die Endlichkeit und Zerbrechlichkeit des Lebens sichtbar gemacht hat. Und ich treffe hier Menschen, die gehen spielerisch mit ihrer Krebsgeschichte um.

"Manche Menschen malen hier ihren Tumor" sagte die Ergotherapeutin, als sie mich mit einigen anderen hier in die Ergotherapie (Malen, Gestalten, Flechten) locken wollte. Och nö, dachte ich, das will ich bestimmt nicht. Diesem elenden Nichts, das sich ungefragt und nicht eingeladen in mein Leben gedrängt hat, will ich nicht noch ein Gesicht geben.

Ach, ich bin so vergesslich. Ich kann keinen Gedanken klar zu Ende denken. Ich ertrage keinen Stress. - Das geht hier vielen so. Wer das Tor zur Chemo durchschritten hat, der macht diese Erfahrungen.

Und nun neigt sich diese Zeit dem Ende zu. Habe ich bahnbrechende Lebensentscheidungen hier getroffen? Nein. Warum auch? Alles hat seine Zeit. Und die Auseinandersetzung mit meinem Krebs ist nicht zu Ende, schon in wenigen Tagen erwartet mich der Chemotherapie dritter Teil.

Und wo bitte, lieber Stefan, ist Dein Glaube? 

Ich habe hier Gott unter anderem in den Gottesdiensten erfahren, die ich an zwei Sonntagen im Ratzeburger Dom mitgefeiert habe. Das waren normale landeskirchliche Veranstaltungen mit der üblichen lutherischen Liturgie. Und dennoch durfte ich mich in die Liturgie und die herrlichen Lieder einfach fallen lassen. Es war zuweilen wie ein Nachhausekommen. Gott schloss mich in Seine Arme. Habe ich Christus in den letzten Jahren als einen Fordernden gesehen, so durfte ich nun erkennen, wie sehr ich damit auf dem Holzweg war. Christus ist der, bei dem die Liebe zuerst kommt. Und dann noch einmal die Liebe. Ich gehöre nicht zu Ihm, weil ich mühe, Seinen Forderungen nachzukommen, sondern ich gehöre zu Ihm, weil Sein Wort es mir zuspricht. "Ich habe dich je und je geliebt, ich habe dich zu mir gezogen aus lauter Güte" (Jeremia 31:3) und "ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein." (Jesaja 43:1).

Und dann noch am letzten Sonnabend bei der Aufführung des Oratoriums "Die Schöpfung" von Joseph Haydn, ebenfalls im Dom. 

Ich spüre, wie sich mein Glaube verändert. Mit dem "Hurra, hurra, die Post ist da!", "hoch die Hände, Wochenende" - Christentum kann ich nichts mehr anfangen. Die lärmende Kulisse wird beiseite geschoben und meinem Blick öffnet sich die ganz und gar die Geborgenheit in der abgrundtiefen Liebe Gottes. Da versagt meine Stimme. Da verklingen die Lieder. Da kommt der Lärm zum Erliegen. Es ist ganz und gar musikalische Schwingung und dennoch von tiefer Ruhe und tiefer Stille geprägt. "Zieh die Schuhe aus, denn der Boden auf dem du stehst, ist heilig" (2. Mose 3:5). 

Gottes Liebe trägt - auch im Sturm.

Seid herzlich gegrüßt, Alsterstewart
















2 Kommentare:

  1. Lieber Freund,
    ja, so ist es, der Krebs macht einem die Endlichkeit des Lebens deutlich. In der Reha trifft man seinesgleichen, nicht jeder aber möchte sein Leiden mit anderen teilen. Schlimm genug, dass man betroffen ist, da muss sich zu den Gedanken an die eigene Erkrankung nicht auch noch die Krankengeschichte anderer gesellen.
    Es ist gut und es freut mich, dass du die Lebensfreude nicht verloren hast.
    Dein Glaube, dein Gottvertrauen wird dir helfen, der Zeit bis zur Heilung entgegenzusehen.

    AntwortenLöschen
  2. Ja, Stefan, wir verstehen es nicht wirklich, warum soviele Männer an Prostatakrebs leiden. Wir haben auch einen Freund, der mit 50 Jahren erkrankte - er ist auch noch Arzt, hat dann alles durchforscht, was es nur gab. Die gute Nachricht. Heute ist er 73 und krebsfrei. Aber damals waren wir alle ziemlich geschockt. Du hast einen starken Helfer an Deiner Seite, das können wahrscheinlich die wenigsten in der Reha sagen. Glaube ist Gnade und soviele wollen es einfach nicht hören. Wir müssen "den Staub von unseren Füssen schütteln" und die finden, die es hören wollen. Erhole dich gut und denk an die schönen Nudeln, die es zuhause wieder gibt. LG die Lehmanns

    AntwortenLöschen