Sonntag, 5. August 2018

Lange gewartet, mehr als zwei Monate habe ich nichts geschrieben. Ein lieber Freund meinte, dass man daran merkt, dass alles in Ordnung ist.

Ist alles in Ordnung?

In den letzten Monaten habe ich viel nachgedacht. Komischerweise kommen mir immer die besten Ideen, wenn ich frisch aus der Chemo komme. Dann laufen die Gedanken gut und geschmiert, alles scheint klar, selbst die Gedanken sind klar, die eher dunkel sind. Wenn dann aber die Entspannung kommt oder der Alltag zuschlägt, dann fliegen die Gedanken davon. Sie entziehen sich der Fixierung in ein schriftliches Gefängnis. Die besonders originellen Gedanken bestehen darauf, dass sie fliegen wollen. So erhebt sich mancher Gedanke wie ein Luftballon, zerrt an meinem Kopf und löst sich allmählich. Mir bleibt dann nur noch, dem Gedanken hinterherzuschauen, wie er höher und höher in den blauen Himmel steigt und schließlich nicht mehr zu sehen ist. Fort ist die originelle Idee. Fort die Lösung für viele Probleme. Fort die wegweisende Richtungsentscheidung. Fort. Futschikado. 

Dann bleiben nur die Alltagsgedanken: Was esse ich? Was muss ich besorgen? Welche E-Mail möchte ich in der Firma als nächstes schicken? 

Toll.

Das Gesundheitliche seit Mai: Die Schmerzen in der Schulter wurden mittlerweile analysiert. Ich wurde durchs CT geschoben, wo meine Knochen abermals fotografiert wurden. Zwei Wochen später konnte meine Onkologin mir eine Reise durch meinen Körper spendieren und landete dabei in meiner linken Schulter. Nein, das ist keine Osteolyse (krebsbedingter Knochenschwund), sondern vermutlich eine beginnende Arthrose, also Kalkablagerungen infolge der Knochenreparatur der letzten Monate. Arthrose ist nicht schön, aber immer noch besser als eine Osteolyse.

Was mich jetzt beunruhigt sind vom Hals ausgehende rechtsseitige Schmerzen, die in den Kopf ausstrahlen. Darunter leide ich nun seit ungefähr 10 Tagen. Zudem huste ich wieder. Was mag das schon wieder für eine Teufelei sein? Nebenwirkung? Infekt? WTF?

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Im Gespräch mit meinem Psychoonkologen meinte ich, dass ich immer gelesen habe, dass Krebspatienten nach überstandenen Therapien davon berichten, nun hätten sie endlich den richtigen Durchblick, würden alles intensiver wahrnehmen, bewusster leben.... Mir aber würde das komplett fehlen. Er antwortete darauf: "Nun, diese Menschen haben oft eine Krebsart, die lokal begrenzt ist oder bei der auch die Tochtertumoren beseitigt werden konnten. Bestrahlung, Chemo, OP oder ähnliches. Bei Ihnen, Herr Wartisch, ist die Krankheit im ganzen System. Und ich kann sagen, dass diese Euphorisierungszustände nicht lange anhalten, jeder wird mit dem Alltag und dem Alltag mit der Krankheit konfrontiert werden." So in etwa.

Nach dem Gespräch habe ich nachgedacht, was sich bei mir geändert haben mag, und zwar zum Besseren. Ist das was? 

Also habe ich festgestellt, dass ich etwas gelassener mit den Problemen des Alltags und des Lebens umgehen kann. Schlechte Nachrichten aus der Familie (ja, die gibt es): Ich kann relativ ruhig bleiben.  Leider erforderliche große Ausgaben, was mich früher zur Raserei und zu schwersten Sorgen geführt hat: Dann ist das eben so. Was wird morgen mit unseren Finanzen? Das wird schon gehen. Die großen Krisen der Welt? Interessieren mich weniger. 

Kurz und gut: Ich bin etwas gelassener geworden. Aus welchem Grund sollte ich schließlich die Zeit, die mir zum Leben gegeben ist, mit Sorgen und Grämen verbringen? Das Leben kann morgen schon vorbei sein, da will ich doch genießen, was Gott mir gibt.

Ein Zitat aus den "Peanuts" bringt das auf dem Punkt. Ich fand es in den absolut lesenswerten Buch "Krebs ist, wenn man trotzdem lacht" der (krebskranken) Autorin Sabine Dinkel:

Charlie Brown: „Eines Tages werden wir alle sterben, Snoopy.“ -Snoopy: „Ja, stimmt, aber alle anderen Tagen werden wir leben.“ 

Natürlich hat meine Gelassenheit Grenzen. Geht es um die Krankheit oder um undefinierbare Schmerzen, so wie jetzt, dann bin ich nicht ganz so gelassen, wie ich möchte. Aber es ist ein Prozess.

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Als Christ brauche ich eine geistliche Heimat. 

Dabei gestehe ich, dass mein Glaube in den letzten eineinhalb Jahren etwas gelitten hat. In den letzten Monaten stellte ich zu meinem Erstaunen fest, dass ich mit den Weisheiten, die aus der christlichen Welt auf mich einprasseln, nicht mehr viel anfangen kann. Irgendwie habe ich das alles schon einmal gehört. Irgendwie ertrage ich die abgedroschenen Bilder nicht mehr. Irgendwie sagen mir die Themen nicht mehr viel. Wenn dann noch - ich spreche mit freikirchlichem Hintergrund - die Aktivierungspredigten kommen, die belehrenden Predigten kommen, die "gib jetzt alles für Jesus"-Predigten kommen, die Predigten, die Alltagsmythen als Illustration benötigen, dann höre ich weg.

Der Glaube wird irrelevant. Gott wird irrelevant. Andere Religionen und Philosophien haben auch passende Antworten, Antworten vielleicht, die besser auf meine Lebenssituation passen.

Finis?

Nein.

Das Besondere an der christlichen Gemeinschaft ist ja, dass man Menschen kennenlernt, mit denen eine tiefere Beziehung möglich ist. So ist es auch bei mir: Ein lieber christlicher Freund war so frei, mich noch einmal auf die tröstende Kraft des Glaubens hinzuweisen. Kein Glaube an ein System, kein Glaube an Predigten und deren Relevanz, nicht einmal ein Glaube an die Bibel und die Kirche. Die tröstende Kraft des Glaubens kommt aus dem Blick auf den in Christus leidenden Gott selbst. Jesus, leidend und gekreuzigt, auferstanden und verherrlicht - das ist  das Zentrum des Glaubens. Der Rest ist sozusagen Zugabe.

Mit diesem Trost wurde mir die Kraft des Glaubens wieder offenbar. 



Alles Gute, Alsterstewart

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