Sonntag, 29. Dezember 2019


Lehren des Jahres 2019


Return of the ugly

Ich lebe nun seit mehr als drei Jahren mit der Diagnose "Krebs, unheilbar". Als am 19. Dezember 2016 der Attentäter den LKW in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz fuhr und viele Menschen in den Tod riss, sah ich mich dieser Diagnose ausgesetzt. Was für ein Koinzidenz! Seither hat sich mein Leben deutlich verändert. Nach Therapie, Krankenhaus, Therapie, neuer Berufsalltag, diverse Infekte und dem kürzlichen Ende der Behandlung im UKE stellen sich jedoch auch Lerneffekte ein.

Im schönen Advent stellten sich die Schmerzen in der linken Schulter wieder ein. Zuerst mäßig, dann zunehmend heftig. Eine gewisse Unruhe machte sich breit. "Das geht vorüber" dachte ich mir. Ging aber nicht. "Die im UKE hätten das ja im Blutbild vom 6.12. gesehen." war der nächste Gedanke. Tja, und auch Nachfrage stellte ich heraus, dass meine letzten Blutproben vom 6.12.  im Geschäftsgang des UKE verloren gegangen waren. "Bitte kommen Sie noch einmal vorbei." 

Die Schmerzen waren immer noch da. Ist die Krankheit wieder aktiv? Kann doch sein. Noch vor eineinhalb Jahre wäre das bei mir Grund zur Panik gewesen. Tagelang, nein wochenlang schlechte Laune. Aber jetzt..... blieb ich vergleichsweise ruhig. Zudem las ich noch einmal, was ich im Mai 2018 mit meiner damaligen Ärztin per E-Mail geschrieben hatte. "Ihre Schmerzen können auch andere Gründe haben. Rückkehr der Krankheit unwahrscheinlich" wurde mir damals geschrieben. Meine Konsequenz: Ich beruhigte mich damit, die Zuversicht wuchs

Also war ich am 20.12. wieder zur Blutprobe. Am 27.12. rief dann meine Ärztin aus dem UKE an: 
Die aktuelle Blutprobe sagt aus, dass alles in Ordnung ist. Keine Spur der Krankheit zu erkennen. 

Meine Lehre: Du kannst Dir die schlimmen Gedanken dann machen, wenn wirklich etwas Schlimmes passiert ist. Vorher sind sie nutzlos und bringen nur schlechte Laune. 

Und die Schmerzen? Die sind längst wieder weg.

Ich habe mich oft gefragt, was wohl gemeint war, wenn Jesus sagte: "Sorgt euch nicht um den nächsten Tag, es reicht, wenn jeder Tag seine eigene Sorge hat." (Matthäus 6:34). Ich denke, ich habe es nun endlich endlich ansatzweise begriffen.


Der Ort der Begegnung

Im September war ich ein paar Tage zu Besuch im Kloster Niederaltaich in Niederbayern, direkt am Ufer der Donau und am Fuß des Bayerischen Waldes. Das Besondere an diesem Ort ist, dass diese Benediktinerabtei eine kleine Kirche im byzantinischem Ritus unterhält. Dort feiern katholische Mönche das Stundengebet und die Gottesdienste im ostkirchlichen Ritus, die dafür errichtete kleine Kirche ist im russischen Stil gehalten. An diesen Gebetszeiten habe ich teilgenommen.

Wie sah das aus? Eine kleine Kirche, an der Stirnseite eine große Ikonostase, drei Ikonen auf Sondergestellen davor aufgestellt, ein paar Kerzenständer mit vielen Opferkerzen im Raum verteilt und an den Wänden Holzsitze, die man ausklappen konnte. Zu dem deutschen Gesang der Mönche (überwiegend aus den Psalmen) nach russischen Kirchenmelodien trat ich in die halb erleuchtete Kirche. Im Vorraum hatte ich mir eine Gebetskerze besorgt, die ich dann zu Beginn der Liturgie an einer anderen Kerze entzündete und vor einer der ausgestellten Ikonen aufstellte. Ich küsste die Ikonen, sprach leise ein kleines Gebet mit meinen Anliegen und suchte mir einen Platz im hinteren Raum der Kirche. Manchmal verbeugte ich mich, manchmal schlug ich das Kreuz nach russischer Weise - immer dabei im Blick, wie es die anderen Besucher und die Mönche es vormachten. Der zelebrierende Priester kam aus dem Raum hinter der Ikonostase mit einem Weihrauchfässchen und schritt, den Weihrauch verteilend, von Person zu Person, von Ikone zu Ikone, durch die ganze Kirche.

Ich kann es schlecht beschreiben, was da alles passierte. Aber nachdem ich meine protestantische Scheu und den Dünkel beiseite gelegt hatte, erfuhr ich die Präsenz Gottes. Ich war mit einer Reihe von Fragen an Gott nach Niederaltaich gekommen, aber dort hatte ich dann einen Eindruck und eine Erkenntnis: Es gibt keine Antwort, die Gott mir schuldig geblieben wäre. Es gibt nur: "Halte dein Leben Gott hin, Er ist da und kennt dein Leid." Ein Bibelvers wurde mir wichtig: "In Stillesein und Hoffen würdest Du stark sein." (Jesaja 30,15). In silentio et in spe erit fortiduo vestra.

Meine Lehre: Manche Lektionen, die uns Gott zumutet, sind unerträglich. Aber es gibt auf die tausend Fragen keine Antwort. Nur ein stilles Hoffen auf Gott, das ist alles.

Ach ja: Seither ist mein Verständnis für die orthodoxe Kirche gewachsen. Es gibt gerade im Bereich Liturgie und Gebetspraxis vieles, was man von den orthodoxen Glaubensgeschwistern lernen kann.

An dieser Stelle: In welcher Form mein Glauben sich am besten entfalten kann, das steht nicht so richtig fest.


Der Wandel

Ich halte gerne fest. Am liebsten wäre es mir, wenn ich die Zeit einfrieren könnte und die schönen Momente von ewiger Dauer wären. Oft tauche ich in die Vergangenheit ein. "Wie schön war es damals." Dann schaue ich auf aus dem Erneuterleben vergangener Erlebnisse in die Gegenwart und finde sie scheußlich. Hätte nicht alles auf dem Stand von 1980 bleiben können? Verklärte Geschichte.

Die Zeit schreitet fort und ich schreite mit der Zeit fort. Welche Menschen umgeben mich heute und welche vor 20, 30, 40 Jahren? Schon da hat sich so viel geändert.  Ich erfahre, dass mich das Festhalten an Vergangenem unfähig macht, die Gegenwart zu erleben und auch mit der Zukunft etwas anzufangen. Als ich nun wieder an die Weihnachten meiner Kindheit dachte, beschloss ich: "Das ist ein lange abgeschlossenes Kapitel. Die Zeit kommt nicht wieder."

In Wirklichkeit folgt auf jeden Anfang eine Zeit des Verweilens, auf jedes Verweilen folgt ein Ende. Alles auf dieser Welt ist vergänglich und einem Kreislauf von Werden und Vergehen unterworfen. Es gibt kein Zurück in eine ideale Vergangenheit und es gibt kein Überspringen der Gegenwart durch ein Leben in Träumen, die man sich für die Zukunft ausmalt. Wenn ich an traumatischen Erfahrungen festhalte oder für die Zukunft nur Schlechtes erwarte, hilft mir auch das nicht weiter.

Meine Lehre: Erst wenn ich bereit bin, sowohl den Anfang als auch das Ende der Lebensläufe zu bejahen, zu akzeptieren und zu integrieren, erfahre ich meine Befreiung zum Leben. 

So kann ich auch mit meiner Krankheit umgehen. Sie ist Teil meines Lebens geworden.







Donnerstag, 21. November 2019




Manchmal…. Manchmal ist es wie ein Blitz, der mich durchfährt.

Das Leben hat mich wieder. Es läuft, wie es eben läuft. Das Kleinklein des Alltags.

Und dann noch jede Menge Schwierigkeiten, die mir seit zwei Jahren fast im Wochentakt begegnen. Bis vor eineinhalb Monaten war wenigstens im Job alles OK. Oft wurde ich ja im Zusammenhang mit meiner Krankheit gefragt, wie mein Arbeitgeber denn das sieht. Da konnte ich dann immer guten Gewissens sagen: „Wenigstens da habe ich keine Sorgen.“ Das ist nun vorbei. Wir stehen als Unternehmen vor einer Fusion. Super, das bedeutet, dass alles auf den Prüfstand kommen wird. Welche Bereiche braucht man nicht mehr? Wo gibt es „Synergieeffekte“? Wo kann man sparen? 

Also: Ist mein Arbeitsplatz überhaupt noch sicher?

Das ist dann das, was mir zu meinem Glück noch gefehlt hat. Ich zähle meine Sozialpunkte zusammen. Da macht sich so eine Schwerbehinderung gut. Aber ehrlich: Kacke.

Dann durchfährt es mich doch wie ein Blitz: Du hast Krebs, der nicht mehr weggeht. Meiner Onkologin, der ich viel zu verdanken habe, entfuhr es routiniert: „Das Lenalidomid nehmen Sie, bis die Krankheit wieder aktiv ist.“ WIEDER AKTIV. Ich musste schlucken. Es ist ja noch gar nicht vorbei.

Einem Bekannten erzählte ich neulich, wie lange ich schon in Remission bin. Da kam mir so ganz locker der Schnack über die Lippen „Statistisch komme ich nahe ans Rezidiv.“ Der Blitz, den ich selbst herbeigerufen hatte, schlug wieder in mir ein.

Nun las ich ein weiteres Schicksal eines MM-Kameraden, der auf sein Rezidiv wartet, bei dem dann eine allogene Stammzellentransplantation fällig ist. Das traf mich am meisten. Bin ich auch beim „nächsten Mal“ mit einer allogenen Transplantation dabei?

SCHIETE.

In diesen Momenten greift die Verzweiflung nach mir. Da begreife ich, dass der Alltag nur Schein ist, aber das, was in mir vor sich hin brütet, die brutale Realität.
Ist das wirklich so? Hat mich die Krankheit im Griff?

Mein Psychoonkologe fragte mich, ob ich hoffen kann. Hoffen darauf, dass es kein Rezidiv gibt. Ehrlich: Das ist schwer, weil alle sagen, dass MM wiederkommen wird und nicht aus dem Körper für immer verschwindet. Doch gibt es keine vernünftige Alternative zur Hoffnung und zum Optimismus. Sollte die Krankheit jemals „wieder aktiv“ werden, dann habe ich bis dahin wenigstens gut gelebt.

Geistlich: Ich kaufe einen Acker in Anatot (schaut bei Jeremia nach). Weltlich: So eine Diagnose („Krebs“) ist nicht schlecht, sie erzieht einen zum glücklich sein. (Hubertus Meyer-Burckhardt)


Freitag, 13. September 2019








+++ Update +++

Hat ein paar Monate gedauert mit dem neuen Text. Aber hier ist er.

Ich bin immer noch und Gott sei Dank in Remission. Remission ist der Begriff dafür, dass der Krebs mit medizinischen Mitteln nicht mehr nachweisbar ist. Manchmal höre ich auch, dass die Krankheit zur Zeit nicht aktiv ist. Wie auch immer: aktuell ist der Krebs nicht da.

Wirklich nicht?

Seit nunmehr knapp zwei Jahren absolviere ich die Erhaltungstherapie. Jeden Monat muss ich im UKE erscheinen und lasse mir den Nachschlag servieren. Das ist eine volle Infusion mit dem Antikörper, der sich gegen den Krebs richtet. Üblicherweise erhalte ich dies an einem Freitag.

Freitags läuft also die Infusion mit dem Antikörper. Aus dem UKE taumele ich danach erleichtert, aber auch etwas benebelt. Na klar, ich bin auch so richtig müd.  Einen Tag später am Sonnabend spüre ich bereits, wie mich meine Körperkräfte allmählich verlassen. Spätestens am Nachmittag merke ich, dass bald mit mir nichts mehr los ist. Abends kommen dann entweder Fieberschübe oder aber unendliche Schwäche. Da trifft es sich gut, dass die Nacht auf Sonntag meist eine halbwache ist, da mich die Medikamente, die zur Infusion gegeben wurden, in meiner Erschöpfung aufputschen. Sonntag bin ich dann groggy und möchte nur noch in Ruhe gelassen werden. Meine Familie ist so lieb und lässt mich dann auch schlafen oder wenigstens ruhen. Wenn ich Glück habe, dann bin ich am Montag wieder auf dem Damm.

Selbstverständlich nehme ich jeden Tag meine Chemotherapietabletten. Praktischerweise haben diese Nebenwirkungen, die durchaus nicht von Pappe sind. Seit Monaten leide ich unter Durchfällen, Hautveränderungen und einem gut schwankenden Blutdruck.

Immunsystem ist auch ein gutes Stichwort: Mitte August hatte ich mein Gespräch mit dem Psychoonkologen. Wir zogen eine Bilanz und ich meinte, dass ich richtig Glück hatte, in diesem Jahr 2019 praktisch noch keinen größeren Infekt gehabt zu haben. Letztes Jahr waren Infektionen sozusagen im 3-Wochen-Rhythmus eingeflogen. Am Abend nach dem Gespräch fing mein Hals an zu kratzen, am nächsten Tag hatte ich Fieber und einen Schnupfen mit einer Nase im Dauerlauf.
Panta rhei, wie der Altgrieche sagt.
Es folgte sehr bald der Husten und eine exzellente Bronchitis, die mich zweieinhalb Wochen intensivst beschäftigte. Also doch Infektion.

Letzten Freitag war ich also wieder bei meiner Onkologin im UKE.
„Na, nun sind Sie bald mit der Therapie hier durch“ sagte sie mir freundlich.
„Ja – und wie geht es weiter?“ wollte ich wissen.
„Sie suchen sich einen niedergelassenen Onkologen, der ihnen das Rezept für die Chemotherapietabletten ausstellen wird und den Sie dann einmal pro Monat besuchen müssen. Außerdem kommen Sie einmal im Vierteljahr zu uns und lassen ein Blutbild machen.“
Oha, dachte ich, das hört sich nach vielen Terminen an.
„Die Tabletten“ sagte sie, „müssen Sie so lange nehmen, bis die Krankheit wieder aktiv ist.“

Ich schluckte. „Krankheit wieder aktiv“ Ja, das wusste ich, das ist mir klar. Aber das noch einmal zu hören, dass dann noch etwas vom MM kommt, das hat eine dunkle Saite in der Klaviatur meiner Seele angeschlagen.

Remissionsalltag heißt bei mir übrigens, dass ich mich immer frage, ob der eine oder andere Schmerz, den ich in meinem Körper wahrnehme, normal ist oder ob da eine bösartige Ursache dahintersteckt.

Auf der anderen Seite dachte ich mir, als meine Onkologin „Krankheit wieder aktiv“ mit einer gewissen Selbstverständlichkeit sagte, dass ich bis dahin ja noch Leben habe. Was spricht dagegen, das Leben wenigstens bis zu dem Zeitpunkt zu genießen und aktiv zu gestalten, bis die „Krankheit wieder aktiv“ ist? Die Krebsbiographie ist kein Grund, den „Sand in den Kopf zu stecken“, wie es der Fußballphilosoph Lothar Matthäus weise formuliert hatte.

Krebs ist Arbeit. Remission ist Arbeit.

Nächste Woche kann ich verwirklichen, was ich seit Jahren wollte. Ich fahre für ein paar Tage in ein richtiges Kloster, genauer gesagt in die Benediktiner-Abtei Niederalteich in Niederbayern.

Das ist eine Auszeit. Man hat mir gesagt, dass man sich in solchen Zeiten und an solchen Orten auf die Suche nach Gott begeben kann.
Na dann.

Samstag, 1. Juni 2019



Meine Brille

Das ist kein Text zum Thema Krebs. Es ist die Geschichte der schwierigen Beziehung zwischen der Sehhilfe und mir.


Die Initiation

Es muss ein Wintertag des Jahres 1970 gewesen sein.  Ich war gerade fünf Jahre alt und lag in meinem Bett. Damals bewohnte ich mit meinem Bruder ein acht Quadratmeter-Kinderzimmer in Hamburg-Bramfeld. Unser Bett war ein Doppelstockbett, in welchem ich als der ältere natürlich im oberen Geschoss meine Nachtruhe verbrachte. Mein Bruder durfte sich mit dem unteren Part begnügen.

An diesem Morgen las ich ein Bilderbuch. Lesen? Nein, ich konnte noch nicht lesen, daher betrachtete ich aufmerksam die einzelnen Bilder. In meiner Erinnerung war das irgendwas mit Bauernhof, auf dem sich diverse Tiere tummelten. Das Buch selbst war etwas unhandlich und - da für kleine Kinder angefertigt - mit Pappe in mehreren Lagen verstärkt.

Dann passierte es: ZACK! Durch eine Unachtsamkeit hatte ich mir eine Ecke des Buches, ob Vorder- oder Rückseite weiß ich nicht mehr, direkt in mein linkes Auge gerammt. Frag nicht, wie. Aber die Ecke stach in mein linkes Auge. Ein furchtbarer Schmerz erhob sich - und ich reagierte mit hilflosem Schreien und Weinen. Ein Elternnotruf. "Der Junge muss sofort ins Krankenhaus" entschieden meine Eltern.

Verheult und mit dickem Auge ("Fass das ja nicht an!") kam ich an der Hand meiner Mutter im AKH Barmbek an. Das Auge wurde gründlich untersucht und dann mit etwas Salbe behandelt, ein Verband darüber geklebt. Fertig. Schmerz lass nach. Praktischerweise ergab die Nachbehandlung auch gleich eine Diagnose: "Frau Wartisch, vor allem auf dem linken Auge, aber auch rechts hat ihr Sohn eine Hornhautverkrümmung. Er braucht eine Brille."

Kurze Zeit später folgte Augenarzttermin auf Optikertermin ("Möller und Pöhl") und ich erhielt - täterätää - meine Brille. Und wie bitteschön sah die Brille des Jahres 1970 aus? Ein düsteres, dafür aber klobiges Horngestell umfasste zwei schmale, leicht dreieckige Gläser. Kindgerecht. Die Erwachsenen trugen so ähnliche Brillen, nur größer. Zu meiner Verblüffung aber empfand ich keinerlei Unterschied zwischen dem Sehen ohne und dem Sehen mit Brille.

Was mir damals seltsam vorkam, ist die mir heute wolhbekannte Tatsache, dass mein rechtes Auge freundlicherweise das Sehen für die linke Gesichtshälfte übernommen hat. Links funktioniert kaum. Ich bin sozusagen blind auf dem linken Auge.


Descente à l´enfer

Ein Junge von fünf, sechs, sieben Jahren, der eine Brille trägt. In den frühen 70er Jahren (das "bunte" Jahrzehnt, in dem alle happy waren) war das ein Vernichtungsurteil. Schon mein Vater, der mir seinen berüchtigten Sarkasmus vererbt hat, empfing mich mit den Worten: "Na du bebrillter Ömmes." Ich spürte eine gewisse Erschütterung der Macht.

In dieser Zeit feierte ich ein Erlebnis, das jeden Menschen in Deutschland früher oder später ereilt: Die Einschulung. Im September 1971 stand also ein bebrillter Ömmes mit blauer Schultüte leicht ungelenk auf dem Schulhof der Grundschule Heinrich-Helbing-Straße und starrte ausdruckslos in ein Fotoobjektiv (schade, dass ich keine Fotos da habe). Ich war nicht der einzige Brillenträger in meiner Klasse, aber der einzige Junge mit einer Brille. "Brillenschlange" war daher der erste Spitzname, den sich meine Mitschüler für mich ausgedacht hatten. Das war nicht sonderlich kreativ, aber durchaus einprägsam. In der Klasse 1a von 1971 gab es ja - wie gesagt - nur einen einzigen Jungen mit Brille.

Es ist nicht verwunderlich, dass sich das Motiv "Bebrillter Ömmes, den man Brillenschlange nennt" durch meine Grundschulzeit zog. Heute ist das kaum noch nachvollziehbar, damals aber gab es nur sehr wenige Brillenträger in meinem Alter. Und denkt nur nicht, dass die wenigen, die ein "Nasenfahrrad" (auch so eine spaßige Bezeichnung), als Gesichtsverzierung trugen, untereinander solidarisch waren. Im Gegenteil. Da herrschte Hauen und Stechen, schließlich freute sich jeder Bebrillte, dass selbst im unteren Bereich sozialer Beliebtheit immer noch genug Platz im hinteren Bereich war. Dorthin wurden dann diejenigen geschoben, die sich entweder nicht zu wehren wussten - oder die ein ganz besonders hässliches "Nasenfahrrad" ihr eigen nannten.

Wir schrieben 1975: Die flippigen Seventies-Modelle zierten die Augen der Nachzügler. Ich trug, wie gesagt, eine düstere Hornbrille mit kleinen Gläsern, Modell von irgendwas rund um 1966.


Der blaue Rahmen

Damals waren lange Haare in. Jeder Junge, der etwas auf sich hielt, musste zwei Dinge haben: Erstens ein Bonanzarad, zweitens lange Haare.

Ein Bonanzarad war ein Fahrrad mit einem bananenförmige Sattel, hochgezogener Lenkstange und ohne Gepäckträger. Wichtig waren die roten, kreisförmigen Reflektoren, die man Katzenaugen nannte, und die an dem Fahrradgestänge effektheischend angebracht waren. Ich hatte kein Bonanzarad ("zu teuer"), aber einen frisch montierten Bananensattel auf meinem Kinderrad. "Voll spastig" war der Kommentar meiner Altersgenossen.

Aber ich hatte lange Haare. Nicht sehr lang, sondern so durchschnittslang. Sie entluden sich über meine Ohren und hatten eine Länge erhalten, dass ich sie sogar in den - Vorsicht beim Weiterlesen -  Mund nehmen konnte. Cool war das, auch wenn es dieses Wort 1975 noch nicht in die Jugendsprache geschafft hatte.

Dazu passte Hornbrille Model 1966 nicht mehr. Mein Gesicht war auch nicht mehr das eines Fünfjährigen. Also ab zum Optiker "Möller und Pöhl" in Barmbek. Die schrieben mir ja immer so freundliche Briefe zum Geburtstag. Das Logo war eine - wie originell - Brille, die die Buchstaben M und P freundlich zu einem Gesicht verband.

Neue Brillengläser. Endlich. Sie waren nicht mehr dreieckig und klein, sondern abgerundet viereckig und groß. Mit nur fünf Jahren Verspätung war ich in den 70er Jahren angekommen! Alles das wurde getoppt durch den blau schimmernden und schmalen Rahmen, der die Gläser einfasste. "Frau Wartisch", erklärte Optikermeister Pöhl meiner Mutter, "ihr Sohn hat sich ein fabelhaftes Gestell ausgesucht." Dem Optiker gefiel´s also, meiner Mutter auch - und mir dann ebenfalls. Abends begutachtete mein Vater das neue Gestell. "Soso, dann eben blau."

Im Hochgefühl neuer Schönheit betrat ich am nächsten Morgen meine neue Schulklasse. Mittlerweile hatte ich die weiterführende Schule erreicht, zudem war der Anteil der männlichen Brillenträger etwas angestiegen. Die Reaktion meiner Klassenkameraden war - null. Eines hatte sich beim blauen Rahmen aber erhalten: "Brillenschlange" blieb eine geläufige Bezeichnung für mich.

Es muss in den unschuldigen Monaten der Jahre 1976 oder 1977 gewesen sein, als ich über den blauen Rahmen nachdachte. Nein, nicht nur über den, sondern über die Brille allgemein. Mochte ich mich damit sehen lassen? Wie reagierte mein Umfeld darauf? Welchen Vorteil brachte mir die Brille? Ich setzte sie ab und betrachtete meine Welt, die damals eine verkehrsreiche Straße in Bramfeld war. Ohne Brille sehe ich gut. Mit Brille genauso gut. Erneute Probe: Brille auf, Brille ab. Kein Unterschied. Als ich nachhause kam, betrachtete ich mich im Spiegel: Ein Junge von vielleicht 12 Jahren, immer noch recht lange Haare (fast kinnlang), mit Brille. Also Brille ab: Ey, was siehst Du gut aus, Stefan.

Ich beschloss: Die Brille bleibt ab.

Schon am nächsten Morgen wurde der Beschluss in Vollzug gesetzt. Brillenlos und gut gelaunt trat ich in die Welt. "Wo ist deine Brille?", fragte meine Mutter. "Setz die Brille auf!", sagte meine Mutter. Ich setzte sie auf und sofort wieder ab. Nie mehr im Leben sollte mich eine Brille quälen, da nahm ich lieber elterliches Unverständnis und entsprechende pädagogische Maßnahmen in Kauf. Was letztere anbelangt kann ich rückblickend festhalten: Ich habe sie brillenlos ausgesessen.


The empire strikes back

Was der 12 jährige beschlossen hatte, blieb jahrzehntelang als eherner Vollzug: KEINE BRILLE!

Mein Sehvermögen wurde zwar nicht besser, aber mein Gefühl hatte diese Fakten besiegt. Selbst die Schwächen beim räumlichen Sehen wurden überwunden.

Sehtest 1984 bei der Bundeswehr: "Welches Kästchen von den vieren kommt ihnen entgegen?" fragte der genervte Sanitätsunteroffizier beim Eignungstest für den Bundeswehrführerschein. Ich nannte das falsche, sie sahen für mich alle exakt gleich aus. "Nehmen sie mal die Pappnase ab" brüllte der freundliche Kamerad. Also riet ich - und gewann! Ich durfte den Führerschein machen. Noch heute erfreue ich mich der Tatsache, dass ich meinen Führerschein "beim Bund" und damit gratis machen konnte. Dank eines geratenen Sehtests.

Ein halbes Jahr später wurde ich erneut durch Bundeswehraugenärzte untersucht. "Hornhaut total verkrümmt links, sieht nicht richtig räumlich" befand Oberstabsarzt Irgendwer und ich war den Bundeswehrführerschein wieder los. Gut, dass ich ihn in der Zwischenzeit zivil habe umschreiben lassen.

Der Makel blieb in meiner Seele haften: Ich sehe links schlecht. Aber Brille, das kommt nicht in Frage.

"Warum guckst du immer so grimmig?" wurde ich eines schönen Tages des Jahres 2000 von einem Arbeitskollegen gefragt, als ich in meinen Monitor schaute. "Ich stelle meine Augen scharf" entgegnete ich. "Wie wäre es mal mit einer Brille?" kam zur Antwort.

Unwort Brille. Aber die traurige Erkenntnis wuchs in mir, dass ich eine Brille brauche. Wenigstens um besser lesen und arbeiten zu können.

Kurz vor Weihnachten 2001 kaufte ich dann meine erste Brille seit jenem legendären blauen Rahmen. Sie war ein mehr oder weniger randloses Etwas und auf der Höhe der damaligen Brillenmode. Als ich sie aufsetzte und in die Welt schaute, die damals eine verkehrsreiche Straße in Hamburg-Wandsbek war, erfasste mich ungläubiges Staunen: Ach, so sieht die Welt aus? Dreidimensional. Und selbst kleine Buchstaben strahlen mir entgegnen und eröffnen mir bereitwillig das Geheimnis ihrer Bedeutung.


Ende gut, alles gut!?

Jaja, ich gestehe, dass ich die Brille nur zum Lesen aufsetze. Nur zum Arbeiten am Computer. Nur zum Kochen. Nur zu den Gelegenheiten, in denen ich besonders scharf gucken muss. Sonst schreite ich brillenlos durch die Welt.

Die Erkenntnis, dass ich ohne dieses Ding aufgeschmissen wäre, ist bei mir angekommen. Ohne Brille kann ich nicht mehr lesen, nicht mehr arbeiten, nicht mehr kochen usw. Die Welt verschwimmt, wenn ich kleine Dinge betrachten muss. Mit zunehmendem Alter sind meine Augen schlechter geworden. Links sowieso, das Auge habe ich ohnehin aufgegeben. Aber das rechte schwächelt auch. Ein Augenarzt hat mir dazu gesagt, dass eben der Augenmuskel im Laufe der Zeit nachlässt und die Hornhautverkrümmung daher nicht mehr so gut ausgeglichen werden kann. Danke für die Erklärung.

Fehlt mir die Brille, dann fehlt mir in der Tat etwas. Also, liebe Brille, schließen wir Frieden.

Dann setze ich sie auf: Ach, sofort bin ich nicht mehr 54, sondern 6 Jahre alt und der Ruf "Brillenschlange" ertönt in meinem Kopf. Im Spiegel schaut mich ein bebrillter Ömmes an.

Hmnnnn....




Samstag, 27. April 2019


Ich weiß ja nicht.... Ich weiß ja nicht, ob ich diesen Blog noch fortsetzen soll. 
Ich weiß ja nicht.... Ich weiß ja nicht, ob der Blog noch das trifft, was ich sagen soll.
Ich weiß ja nicht.... Ich weiß ja nicht, ob ich noch etwas mitzuteilen habe.

Was weiß ich dann? Na gut, noch einmal in die Tasten gehauen!


Gesundheitsbericht: Infektionen und Nebenwirkungen

In diesem Jahr 2019 gestaltet sich die Gesundheit etwas anders als im Jahr 2018. Quälten mich das letzte Jahr hindurch eine ganze Reihe von Infektionen, so ist dieses Jahr bislang eher langweilig. Eine einzige fiebrige Infektion im Winter, die nach sehr kurzer Zeit ausgestanden war, und mehr nicht. Ich kann na klar nicht sagen, dass ich die Infektionen des letzten Jahres genossen hätte. Au contraire. Aber Spektakuläreres als zwei Tage Fieber kann ich nicht berichten.

Das ist doch auch gut so! 

Nun bekomme ich auch allmählich die Nebenwirkungen der immer noch laufenden Chemotherapie in den Griff. Diese äußern sich vor allem in Muskelkrämpfen in den Füßen und in Schüttelfrost einen Tag nach der Antikörpervergabe.

Den Schüttelfrost bekomme ich immer zuverlässig rund 30 Stunden, nachdem ich mir im UKE meinen Antikörper namens Elotuzumab abgeholt habe. Das kommt bei vielen Patienten vor, die dieses Präparat zu sich nehmen. Da ich alle vier Wochen freitags "dran" bin, kann ich sicher sein, dass Sonnabend Abend der Schüttelfrost kommen wird. Dieser klingt in der Nacht zum Sonntag ab. Sonntag bin ich dann "flach" gelegt und kann gar nichts mehr. Meistens erhole ich mich zum Montag dann und bin am Dienstag wieder fit. Jetzt hat mir die neue Chefärztin der Onkologischen Ambulanz den Tipp gegeben, da mit Paracetamol gegenzuschießen. Dann ließe sich der Schüttelfrost umgehen. Gesagt und nun getan: Diesen Text schreibe ich beispielsweise schüttelfrostfrei im T-Shirt bei normaler Körpertemperatur nach mittäglicher Einnahme von Paracetamol. Ich bin glücklich und erstaunt. Mal sehen, was die Nacht nun so bringt.

Alternativ schlug die Ärztin mir Cortison vor. NEIN! NEIN! NEIN! Cortison mag nützlich und prima sein, aber Cortison und ich werden sicherlich nie dicke Freunde. Nach den Erfahrungen von vor zwei Jahren - ich sage nur Bluthöchstdruck! - verzichte ich gerne auf derlei Hilfsmittel. Lieber eine Nacht Schüttelfrost als eine Dosis Cortison.

Krämpfe in den Füßen machen mir auch zu schaffen. Die treten meistens im Liegen auf, manchmal auch, wenn man sie nicht brauchen kann. Liege ich auf der Massagebank (mein Arbeitgeber spendiert mir Massagen während der Arbeitszeit zu einem günstigen Preis) , dann kommen die Fußkrämpfe mit Sicherheit. "Entspannen sie sich doch" sagt dann die Masseurin. "Ich versuche es ja mit aller Kraft" erwidere ich angestrengt. 

Neulich fuhr ich mit dem Auto auf die Autobahn. Gerade, als ich Schnelsen-Nord die große Kurve mit der langen Baustelle elegant auf die A7 Richtung Norden hinauffuhr, erwischte mich ein Fußkrampf auf der linken Seite. Wat een Schiet. Da kann ich nicht einfach rechts anhalten und den Fuß durch Gegendruck entspannen. Also: Aushalten und mal sehen, was passiert. Während ich beschleunigte, zog der Schmerz vom Fuß die Wade hoch. Jetzt kühlen Kopf bewahren. "Schmerz lass nach. Stefan - konzentriere dich auf etwas anderes. Schmerz ist nur eine Illusion. Jetzt wird er weniger. Jetzt ist es angenehm. Jetzt ist er wieder da...." So ging es eine ganze Weile. Erst kurz vor Quickborn war ich den Krampf los.

Auch ne Erfahrung.

Was macht eigentlich der Krebs? Ehrlich gesagt: Nix. 

Manchmal erinnern mich Schmerzen im Körper daran, dass die Krankheit erst vor zwei Jahren zurückgedrängt worden ist und dennoch immer noch in meinem Körper schlummert. So zogen vor Wochen schlimme Schmerzen über meinen ganzen Rücken. "The return of the ugly." Was mich letztes Jahr noch in helle Panik versetzt hätte, lässt mich heute gelassener denken: "Wenn die Krankheit zurückgekommen ist, dann wäre das beim letzten Bluttest aufgefallen. Und da war nichts. Sonst eben in zwei, drei Wochen beim nächsten Bluttest. So lange: Enjoy my life."

Ganz ehrlich: In diese Gelassenheit zu kommen war ein hartes Stück Arbeit.


Geistliches

Ich habe in den letzten Jahren zugesehen, immer eine geistliche Deutung zu finden oder damit abzuschließen. Doch hat die Auseinandersetzung mit der Krankheit zu einer weiteren Entwicklung des Glaubens geführt.

Glaube ist dynamischer, als ich dachte. 

Früher hielt ich eine einfache Glaubensgeschichte für ausreichend. Bekehrung und dann Gemeinde, das langt. Wechsel von einer Gemeinde zu einer anderen anderen fand ich nicht so prima. Warum macht man das?

Und nun habe ich die Gemeinde gewechselt. Warum? Weil sich das Leben, mein Leben, geändert hat. Meine bisherige Gemeinde hat sich auch geändert. Nichts erlebe ich mehr so, wie es vor zweieinhalb Jahren war. Also bin ich nach reiflicher Überlegung aus der Elim Hamburg ausgetreten und zurück in die evangelisch-lutherische Landeskirche gegangen. Dort docke ich an die Friedenskirche in Jenfeld an, die mich in vielem an meine ersten Jahre als Christ, seinerzeit noch in der Versöhnungskirche Eilbek, erinnert. Landeskirchlich zu glauben empfinde ich als zu meiner Lebenssituation passend.

Ich hatte letztes Jahr geschildert, dass sich mein Glaube in einer Krise befindet bzw. ich durch diese Krise hindurchgeführt wurde hin zu einer Erneuerung und Wiederherstellung des christlichen Glaubens. Nun stelle ich fest, dass es dabei doch zu einer Reihe von Dellen und Schrammen gekommen ist. Also muss mein Glauben noch einmal in die Werkstatt und gründlich durchgecheckt werden. Defektes muss repariert werden und einige verschlissene Werksteile durch neue ersetzt werden. Wichtig: Meine Glaubenssoftware benötigt ein Update.

Neulich las ich hier bei Facebook den glücklichen Bericht eines lieben Mitchristen über das erhörte Gebet bei der Parkplatzsuche. Ich kann die Freude darüber gut nachempfinden. Was mich dabei nur stutzig macht: Gott erhört das Gebet nach einem Parkplatz deutlich eher (und öfter) als mein Gebet um vollständige Heilung vom Multiplen Myelom. Wo wäre da die Relation? Eine tödliche und lebenszeitverkürzende Krankheit ist nach meine Verständnis bedeutungsvoller als ein freier Parkplatz. Man mag hierauf berechtigt einwenden, dass das erhörte Gebet für den einen nichts besagt über das (nicht erhörte) Gebet von mir. Oder dass Gott ganz andere zeitliche Maßstäbe hat als ich. Aber das alles überzeugt mich nicht. 

Die Lösung liegt wohl eher darin, dass Gott nicht funktioniert. Nie funktioniert hat. Nie funktionieren wird. "So hopp, lieber Gott, spring über das Stöckchen, das ich Gebet nenne und dir hinhalte.... Ja, fein gemacht, lieber Gott, gut gesprungen." Liebe Leute, so geht das nicht.

Gott funktioniert nicht. Aber: Er ist immer da. Das ist das, was mich an der Sache mit Gott überzeugt und immer noch überzeugt. Er trägt durch Krankheit und Parkplatzsuche gleichermaßen. Gottes Zusage der immerwährenden Liebe ist das Kreuz, an das Jesus genagelt wurde. Gottes Zusage der immerwährenden Gegenwart in unserem Leben ist die Auferstehung Jesu aus dem Tod. Gottes Zusage der immerwährenden Hoffnung ist die Ausgießung seines Geistes zu Pfingsten.

Klingt das zu pathetisch?

Bei mir kommt derzeit alles auf den Prüfstand, was ich je geglaubt habe.

Zuversicht finde ich bei dem Theologen Thomas Frings, der geschrieben hat: "Ich glaube nicht an Wunder, ich glaube an die Zusage Jesu, dass ich im Tode nicht untergehen werde."

So ist es.




















Dienstag, 12. Februar 2019


Mittlerweile sind es zwei, drei Monate, seitdem ich den letzten Post veröffentlicht habe. Gibt es nichts mehr mitzuteilen oder zu posten? Der ganz große Druck ist irgendwie weg, der Gedankenstau im Kopf, der aufzulösen ist, den gibt es so nicht mehr.

Dennoch.

In der letzten Zeit beschäftige ich mich damit, wie meine Krankheit Teil meines Lebens geworden ist. Unübersehbar sind die Tage, an denen ich zur Antikörper-Infusion ins UKE muss. Da wird mir immer wieder aufs Neue bewusst, dass das Thema Krebs lange nicht erledigt ist. Wenn die Therapie insgesamt abgeschlossen sein wird, bleibt der sichere Rückfall.

Nun ja,

Ich habe eine deutlich größere Freiheit in der Auseinandersetzung mit dem Multiplen Myelom gewonnen. Als ich vor zwei Jahren in die Chemo ging war alles für mich bedrohlich. Hörte ich davon, dass andere Patienten gut mit der Krankheit klargekommen sind, dachte ich, dass die eben Glück gehabt haben und das für mich nicht gelten könne. Wenn ich dann vom traurigen Schicksal derjenigen erfuhr, die an MM erkrankt und verstorben waren, rechnete ich mich das als das zu, was mir alsbald bevorstand. Daher war es unerträglich, mich mit anderen Patienten und Betroffenen über das Thema MM auszutauschen. MM war und blieb daher mein Einzelthema. Noch in der Reha im September 2017 verspürte ich keine Neigung, mich mit anderen Betroffenen, die sich dort zur Austauschrunde trafen, zu unterhalten.

Das hat sich seit ein paar Monaten geändert, was nicht nur daran liegt, dass ich mich der Remission erfreue. Vielmehr kann ich das MM besser einordnen und weiß in etwa, was da alles passiert. Die entscheidende Lektion aber in puncto MM ist, dass die Krankheit je Patient individuell unterschiedlich ist. Der eine hat Dauerschmerzen, der andere merkt fast nichts. Ein Patient leidet an andauernden Infektionen, der andere unter Übelkeit. Alles ist möglich. Zudem ist die Reaktion des Körpers auf die Chemotherapie auch je Patient verschieden. 

Es gibt also nicht „den“ Fall, es gibt „die“ Fälle.

Gerade wenn ich an die Zeit vor zwei Jahren zurückdenke, erfüllt mich durchaus eine Dankbarkeit dafür, dass ich überhaupt noch da bin und dass mich MM und seine Begleiterscheinungen körperlich kaum beeinträchtigen. Es bleibt eine erhöhte Infektanfälligkeit und eine besondere Sensibilität für die Vorgänge in meinem Körper. 

Letzte Woche stellte meine Hausärztin bei mir eine leichte Blutarmut fest. ALARM! Das ist ein Symptom eines aktiven MM. Ich gestehe, dass mir das Herz in die Hose rutschte - aber nur für einen Augenblick. Für Blutarmut gibt es mehr als nur eine Ursache. Außerdem hätte man es mir im UKE bereits diagnostiziert, falls MM wieder aktiv wäre. Also: Ruhig atmen. Blutarmut kann eher im Zusammenhang mit einem Medikament stehen, das ich zu meiner Chemotherapie seit Monaten einnehme.

Es gibt sogar Tage, da ist der Krebs nicht nur Teil meines Lebens, sondern auch so etwas wie mein Freund. Jedenfalls bilde ich mir ein, ihn zu kennen und mit ihm umgehen zu können. Vermutlich täusche ich mich in ihm, aber mir kommt es so vor. MM bietet mir eine Art von Sicherheit in stürmischer Zeit. Einen Hafen, in den ich ganz sicher fahren werde. Dass die freundschaftliche Umarmung des Myeloms lebensgefährlich ist, nehme ich in Kauf oder verdränge ich.

Natürlich beschäftige ich mich auch mit dem Glauben. Dass ich überhaupt noch glaube, ist nicht selbstverständlich. Letztes Jahr wäre ich glatt abgerutscht.

Doch ist der Glaube seines Zierrats beraubt worden und steht bloß vor mir. Dabei mache ich die Erfahrung, dass die Betrachtung des Glaubensinhalts mir Frieden schenkt. Besser gesagt: Die betende Betrachtung des leidenden Gottessohnes führt mich auf den Grund meiner Hoffnung. Es geht nicht mehr um Triumphalismus, auch nicht um Rechtgläubigkeit oder Außenwirkung - es geht um die persönliche Begegnung mit Christus in der betrachtenden Stille. Da war ich schon einmal vor vielen Jahren, als ich neu war im christlichen Glauben. Jetzt, nach dieser einschneidenden Zeit, komme ich an diesen Punkt zurück.

Ist meine Glaubensbiographie dann ein Irrweg gewesen?

Nein. Es ist das Leben, das ich geführt habe und noch führe und in dem ich nun an diesen Ort gekommen bin. Ich habe viel erlebt, viele Menschen auf diesem Weg kennengelernt, habe Verantwortung getragen und übertragen, viel gelernt und weitergeben können. Nun aber komme ich dahin zurück, was meiner Natur am ehesten entspricht.


Mit dem Gepäck meines Lebens, mit meiner Krankheit, mit meinen Hoffnungen.