Dienstag, 19. Dezember 2017


19.Dezember 2017 (Dienstag)

 

Es ist heute genau ein Jahr her….

Heute gedenken die Menschen der 12 Toten vom Breitscheidplatz. Der Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt ist heute vor einem Jahr geschehen. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich damals das Fernsehen einschaltete und Bilder und Berichte auf mich wirken ließ. Nach den Erfahrungen mit dem Anschlag von Nizza im Sommer 2016 war mir klar, dass es sich nicht um einen Unfall handeln konnte. Bilder und Berichte entfalteten ein düsteres Szenario.

Ich war genau in der richtigen Stimmung dafür.

Denn es ist heute genau ein Jahr her….





Vor genau einem Jahr eröffnete mir der Orthopäde am Neuen Wall das Ergebnis der Kernspintomografie meiner linken Schulter. Er erzählte einiges zum Thema und kam dann mit dem Verdacht „Plasmozytom“, da wäre eine „Szintigrafie“ erforderlich, vorher müsse aber ein Blutbild gemacht werden. Kurz und gut: Heute vor einem Jahr löschte nicht nur der Attentäter von Berlin zwölf Leben aus, heute vor einem Jahr löschte die Verdachtsdiagnose „Krebs“ mein bisheriges Leben aus.

„Plasmozytom“ hört sich nicht wirklich besser an als „Multiples Myelom“.

In Gesprächen mit anderen Krebspatienten habe ich immer feststellen dürfen, dass der Moment der Diagnose fast eine Art Initiationsritus ist. Praktisch jeder kann sich erinnern, wo er war, wann es war und wie er reagierte hatte, als die Diagnose „Krebs“ gestellt wurde. Darüber haben sich die Krebsler in der Reha ausgetauscht wie Christen über das Thema „wie bist du zum Glauben gekommen“.

Die Weihnachtslichter strahlen heute wie sie damals strahlten. Mir war das Weihnachtsfest früher ein Ort des Friedens, der Ruhe und der Besinnung. Klischeehaft. Von mir aus. Aber ich konnte es genießen, dass einmal im Jahr der Betrieb für einige Tage zur Ruhe kam und das Jahr seine letzten Tage aushauchte. Diese Ruhe, dieser Frieden und diese Besinnung ist nun Vergangenheit, die nicht mehr wiederkommt. Weihnachten wird mich nun immer daran erinnern, wie diese Krankheit in mein Leben gekommen ist.

Ich bin ein Typ, der gerne und ausdauernd zurückblickt. Da kann ich doch gut und gerne Bilanz ziehen?

Nur so viel: Die letzten 12 Monate haben mich das Leben aus ganz anderen Perspektiven sehen lassen. All die Beschwerden, Ängste, Behandlungen… Das immer wieder neu anfangen, dann wieder aufhören, Schmerzen links, Schmerzen rechts, Tabletten, Spritzen. Und dann die immergleiche Langeweile des Tropfes. Wie verändert sich ein Mensch, der durch die Krebstherapie geht?

Meine Gedanken sind zerhackt. In längeren Gedankenzusammenhängen nachdenken ist nicht mehr möglich. Die Gedanken hüpfen von hier nach da, dann links und dann rechts, bleiben nirgendwo länger und verlaufen dann im Nirgendwo. Das Gedächtnis ist angegriffen. Was ich eben noch für wichtig hielt, habe ich jetzt schon wieder vergessen.

Wollte ich nicht neu über den Sinn nachdenken?

Wollte ich mir nicht Gedanken darüber machen, was mir nun wirklich wichtig ist?

Pustekuchen.

Einmal im Monat treffe ich mich mit einem Psychoonkologen. Das sind gute Termine. Mir wird in den Gesprächen immer neu vor Augen geführt, dass ich eine ernsthafte und sehr schwere Krankheit habe oder hinter mir habe, und dass das alles nicht ohne tiefe Auswirkungen auf meine Persönlichkeit und auf meine Befindlichkeit bleibt. Im Gegenteil: Die Krankheit hat massiven Einfluss auf mein Leben genommen. Ich kann den Einfluss zurückdrängen so wie die Medikamente die Krankheit zurückgedrängt haben und in Schach halten. Aber das braucht Zeit. Viel Zeit. Noch mehr Zeit.

Habe ich diese Zeit?

„Mensch, du siehst ja gut aus“ wird mir wohlmeinend gesagt. Da kommt aber meine Psyche nicht mit. Denn hinter dem vermeintlich gesundem Äußeren stecke ich mit diesen vermaledeiten 12 Monaten im Gepäck. Nein, meinem Körper geht es gut, die Seele ist angegriffen. Da hilft dann auch kein Schulterklopfen mehr.

Das Leben schreitet fort, ich kann die Zeit nicht anhalten oder wenigstens die Welt darum bitten, dass sie wartet, bis ich weiterkann. Die Welt dreht sich – auch ohne mich. Da muss ich meinen Platz erkämpfen.

Kämpfen – schon wieder.

Die Monate waren eine Abfolge von Kämpfen. Immer wieder neu musste ich meinen Köcher füllen und das Schwert umschnallen, um mich für die Ereignisse zu wappnen. Jeder Schritt ein Kampf, jeder Atemzug eine Herausforderung. In den stilleren Stunde folgt die Erschöpfung. Und diese Erschöpfung bricht überall durch. Ich kann Gesprächen nicht mehr richtig folgen. Die Konzentration lässt schlagartig nach. Bücher verlieren ihren Reiz. Auch der Schlaf hilft nicht. Kampf und Krampf auf einmal.

Na klar, ich kann hier auch etwas Frommes schreiben. Doch kann ich nicht verhehlen, dass auch mein Glaube sich verändert hat. Was kümmern mich Dogmen? Mein Glaube ist nicht mehr akademisch. Er ist auch nicht mehr so sauber gelackt und aufgeräumt, wie ich ihn früher haben wollte. Mein Glaube hat Dellen bekommen, er hat Narben, er hat auch hässliche Seiten, ist an Stellen schmutzig und stinkig geworden. Kostbare Teile des Glaubens sind durch den Fleischwolf gedreht worden. Um nicht ganz abzustürzen musste auch Ballast abgeworfen werden, der nun im Dreck der Erde liegt.

Eines verbittet sich der Glaube: Einfache Antworten auf komplizierte Fragen.

Es bleibt nur noch das nackte Vertrauen darauf, dass Gottes Liebe stärker ist.

 Psalm 142

1 Ein Maskil von David, als er in der Höhle war. Ein Gebet.
2 Ich schreie mit meiner Stimme zum Herrn, ich flehe mit meiner Stimme zum Herrn.
3 Ich schütte meine Klage vor ihm aus und verkünde meine Not vor ihm.
4 Wenn mein Geist in mir verzagt ist, so kennst du doch meinen Pfad; auf dem Weg, den ich wandeln soll, haben sie mir heimlich eine Schlinge gelegt.
5 Ich schaue zur Rechten, siehe, da ist keiner, der mich kennt; jede Zuflucht ist mir abgeschnitten, niemand fragt nach meiner Seele!
6 Ich schreie, o Herr, zu dir; ich sage: Du bist meine Zuflucht, mein Teil im Land der Lebendigen!
7 Höre auf mein Wehklagen, denn ich bin sehr schwach; errette mich von meinen Verfolgern, denn sie sind mir zu mächtig!
8 Führe meine Seele aus dem Kerker, daß ich deinen Namen preise! Die Gerechten werden sich zu mir sammeln, wenn du mir wohlgetan hast.

 
Es ist also genau ein Jahr her….

Dienstag, 12. Dezember 2017


 

 12. Dezember 2017 (Dienstag)

 
Die Wochen sind fortgeschritten, eine um die andere. Der Arbeitsalltag hat mich wieder, also Normalität in einer durchweg unnormalen Zeit. Habe ich „es geschafft“? Es gab Skeptiker, die meinten, es wäre besser für mich, wenn ich allmählich einsteige in die Arbeit. Das hat mich nicht überzeugt, ich bin sozusagen wieder „voll“ da. Das einzige, was mich allerdings beeinträchtigt hat, ist eine hartnäckige Erkältung, ein Husten, der einfach nicht weichen will.

Als ich feststellte, dass mit meinen Atemwegen irgendwas nicht stimmt, lief natürlich sofort ein Film ab. „Bekomme ich genug Luft?“ „Und wenn es doch etwas Schlimmes ist…?“ Das ergibt sich ganz von selbst. Dabei sagt die Vernunft: „Lieber Stefan, du nimmst doch deine Medikamente, auch die gegen Embolien und Thrombosen – da kann  nichts Schlimmes passieren.“ Aber der Bauch sagt:_ „Achtung, Stefan, es kann auch etwas Schlimmes sein.“ Nun habe ich seit fünf Wochen Husten und bin dementsprechend gestimmt.

 

Mein Vater und ich

Mitte November hatte ich so richtig Spaß, denn da stand die Knochenmarkpunktion an. Und das war die mittlerweile dritte in diesem Jahr nach denen im Januar und im September. Eigentlich ist das aus meiner Sicht nichts wirklich Schlimmes, nur unangenehm bleibt es doch. Den Tag vorher muss ich Urin sammeln (jedes einzelne Tröpfchen!) und dann eine Probe daraus unter Angabe der Gesamtmenge im Krankenhaus abgeben. Eigentlich eklig. Die Punktion läuft dann routinemäßig ab: lokale Betäubung, Entnahme des Gewebes, Erholung, Ende. Unangenehm, aber unspektakulär.

Dieses Mal war es anders: Die Entnahme des Knochenmarkgewebes war schmerzhaft, es zog durch den ganzen Körper. Ich habe schon schlimmere Schmerzen erlebt, aber das kam unerwartet.

Doch dann kam in mir ein Gedanke auf: Dein Vater hat dieselbe Krankheit gehabt wie du.

Mein Vater hat im Jahr 1992 über Schmerzen im Schulter- und Ischiasbereich geklagt. Über Monate mal mehr und mal weniger intensiv. Im Frühjahr 1993 hat er sich noch ein neues Auto gekauft und ist mit meiner Mutter damit an den Gardasee gefahren. Doch irgendwann im Juni 1993 ging gar nichts mehr. Die Schmerzen waren unerträglich und zogen sich durch den ganzen Oberkörper.

Was ist nur los mit ihm? Es wurde allmählich klar, dass er etwas Ernstes hat. „Abstreifungen an den Rippen“ ergab das Röntgenbild. Die Knochen lösten sich auf. Eine Odyssee von Arzt zu Arzt folgte, kreuz und quer durch Hamburg und das Hamburger Umland. Endlich fand sich ein Arzt, der ihm sagte: „Sie werden eine Art Krebs haben.“ Niederschmetternd.

Im Juli kam er ins Krankenhaus (AK Wandsbek). Die verschiedensten Diagnoseverfahren brachten kein aussagekräftiges Ergebnis. Nur so viel stand fest: Osteolyse, was Symptom, aber keine Krankheit ist. Mittlerweile arbeitete der Krebs bereits so intensiv in ihm, dass mein Vater unentwegt schwitzte und dabei vor Schmerzen weinte. Im Laufe der Wochen setzte die Wirkung der Morphinpräparate ein und die Schmerzen waren etwas gelindert.

Als ich ihn im August oder September 1993 im Krankenhaus besuchte, gingen wir zusammen in die Raucherecke (so etwas gab es damals in Krankenhäusern noch und mein Vater war starker Raucher). Wir führten dort unser letztes Gespräch über Gott und die Welt. Als wir nebeneinander durch das Krankenhaus in die Raucherecke gingen (mein Vater am Gehwagen) fiel mir auf, dass er ganz klein geworden war. Nun war er zeitlebens nie ein Riese, aber so winzig?  Was hatte ihn so schrumpfen lassen? Heute weiß ich es: Die Krankheit hatte Wirbel gebrochen. Das kam mir in den Sinn, als ich meine Knochenmarkpunktion hatte, denn MM führt zur Osteolyse.

Eine Woche später wurde uns mitgeteilt, dass er nur noch ein paar Wochen zu leben hat, Anfang Oktober 1993 ist mein Vater dann gestorben. Es hieß, dass der „Primärherd“ seiner Krebserkrankung nicht gefunden werden konnte, vielleicht säße er in der Lunge.

Für mich war damals klar: Er war Raucher, hat sich wenig bewegt, einiges getrunken und er hatte beruflich enorm viel Stress. Irgendeinen Krebs hat er heraufbeschworen, vermutlich Lungenkrebs.

Heute denke ich anders: Das Krankheitsbild passt anhand meiner Erinnerungen zu meiner Krankheit. Dieser Gedanke erschreckte mich. Dann aber dachte ich nach.

Wie weit war die Forschung 1993? Und wie weit ist sie heute? Wann wurde der Krebs bei ihm entdeckt – und wann erhielt ich meine Diagnose? Welche Therapie stand ihm damals zur Verfügung ? Keine!  Und welche mir? Diverse!

Natürlich kann ich mich irren. Aber der Gedanke bleibt: Wir haben bzw. hatten dieselbe Krankheit. Dass ich bisher durch diverse Therapien gegangen bin und diese auch relativ gut durchgestanden habe, macht mich dankbar. Und gleichzeitig motiviert mich das, den Kampf gegen die Krankheit unbeirrt und kompromisslos fortzusetzen.

Ich werde nie aufhören, an meinen Vater zu denken.

Sonntag, 12. November 2017



12. November 2017 (Sonntag)

Ab morgen geht es los: Der Weg zurück in den Alltag. Das, was wir sonst für selbstverständlich halten, muss morgen wieder für mich selbstverständlich werden.

Was meine ich damit?

Morgen werde ich wieder in den Kreis der Berufstätigen zurückkehren. Der übliche Trott von morgens aufstehen, zur Arbeit fahren, dann arbeiten, nach Hause fahren und dann Feierabend machen, auf den dann einen Tag später dasselbe Muster folgt - das wird morgen für mich wieder zur Realität. Und so soll es auch sein. Seit Mitte April, Gründonnerstag, bin ich aus diesem Alltag komplett ausgeschieden. Nicht, dass es mir langweilig geworden wäre, aber so ganz ohne produktive Arbeit fehlt mir doch etwas. Es gibt Menschen, denen fällt bei zu langer Abwesenheit vom Arbeitsplatz buchstäblich "die Decke auf den Kopf". Ganz so arg drücke ich das nicht aus, aber wieder etwas anderes um die Ohren zu haben, wissen, dass man etwas zum Unternehmenserfolg beisteuern kann, seine Tätigkeit als sinnvoll zu erleben, das ist für mich wichtig.

Doch mehr als das: Es ist "normales Leben".

Ich kehre in das normale Leben zurück. Das Leben der Menschen, die gesund sind oder wenigstens als gesund erscheinen (ich weiß: unter jedem Dach ist ein Ach). Diese Rückkehr ist aber bei mir ein Kampf. 

Ein Kampf gegen die Erfahrungen der letzten Monate. In mir gibt es die Stimmen, die mir sagen: "Ist das nicht zu früh?". "Und wenn es Stress gibt?". "Und wenn du es nicht schaffst?". "Blutdruck". "Unverständnis anderer". Diese Stimmen muss ich zum Verstummen zwingen. Das fällt mir schwer, da diese Stimmen unangemeldet kommen - und sich in meinen Gedanken breit machen. 

Ein Kampf gegen die Skepsis der anderen. Viele Menschen reagieren mit Skepsis darauf, wenn ich erzähle, dass ich gleich voll einsteigen möchte in meinen Arbeitsallltag. "Wäre stufenweise Rückkehr nicht besser?". Das sind oft berechtigte Einwände, getragen von Sorge, Mitgefühl oder Betroffenheit. Natürlich habe ich mich damit auch auseinandergesetzt. Aber der Reiz des Normalen und mein Überdruss an der Annormalität der Krankheitssituation überwiegt diese Skepsis - jedenfalls bei mir.

Ein Kampf gegen meine eigene Unsicherheit. Freilich weiß ich nicht, was mich morgen erwartet. Gedanken dazu habe ich viele: Was hat sich in den letzten Monaten alles verändert? Wie hat sich die Abteilung verändert? Welche gruppendynamischen Prozesse sind gelaufen, auf die ich keinen Einfluss nehmen konnte? Und: Hat man mich vielleicht längst ausgeplant? Gerade dieser letzte Punkt verunsichert mich am meisten.

Wenn mich meine Krankheit in den letzten 10 Monaten eines gelehrt hat, dann dies: Es kommen Herausforderungen auf mich zu, denen ich nicht ausweichen kann - sogar nicht ausweichen darf. 

Ich denke dabei an Ereignisse der letzten Monate: Knochenmarkpunktion, Chemotherapiesitzungen, Lungenembolie, Verlegung von Zentralen Venenkathedern, Stammzellensammlung, Stammzellentransplantation, drei Nächte und drei Tage neben einem sterbenden Lungenkrebspatienten liegen, das Zelltief (Aplasie) und das erhebliche Infektionsrisiko, dazu das psychische Auf und Ab..... In diesen Situationen wusste ich nie so genau, was auf mich zukommen wird. Vieles war unangenehm, schmerzhaft, fürchterlich, gefährlich, riskant oder bis zum Anschlag anstrengend. Aber ich habe diese Herausforderungen angenommen, akzeptiert und durchgestanden. 

Ich bin da durch! Der Krebs hat mich nicht zerbrochen, er hat mich nicht fertig gemacht, er hat mich sogar stärker als gemacht als ich vorher war. Deutlich stärker. Die todbringende Krankheit hat für mich ihren Schrecken verloren, der Respekt vor ihr ist geblieben.

Was erwartet mich also morgen? Keine Herausforderung, die sich hinsichtlich ihrer Tragweite annähernd mit dem messen könnte, was ich bereits hinter mir habe. Sicherlich muss ich kämpfen, um ins normale Leben zurückzufinden. Aber ich habe es nun gelernt, zu kämpfen.

Klar: Ich kann scheitern. Aber ebenso klar: Ich kann auch in den Kampf gehen.


Liebe Grüße, Alsterstewart















Samstag, 21. Oktober 2017





21. Oktober 2017 (Sonnabend)

Es war ein harter Absturz. Ich kam aus der Reha in Ratzeburg. Dort war ich in einem Sport-Förderprogramm. Morgens, mittags, abends….immer Sport, Sport, Sport. Jeden Tag im September konnte ich feststellen, wie ich fitter wurde. Das Körpergefühl war wieder da. Zum Bäumeausreißen stark. Und dann folgte gleich am 29. September: Die Konsolidierungschemo fängt an.
Der starke Mann war wieder ein kranker Mann geworden. Das zehrte nicht nur an meinen körperlichen Kräften, auch die Seele brauchte viel Zeit, sich dieser neuen Herausforderung zu stellen. Es war also Talzeit, die abrupt auf die Bergzeit folgen sollte.

Dennoch war nicht alles umsonst: Ich bin tatsächlich auf den Geschmack gekommen: Sport. Zudem durfte ich in diesen Wochen seit Start der Therapie feststellen, wie ich mit den unausweichlichen Nebenwirkungen wesentlich besser klarkomme als noch im Winter und im Frühjahr. Der Blutdruck ist erstaunlich stabil geblieben, auch die Erschöpfungszustände sind deutlich reduziert. 

Darf ich es also wagen, die Sportschuhe zu schnüren - und Sport zu treiben? Mit Kortison, Elotuzumab, Lenalidomid und Bortezomib im Blut?

Also habe ich die Fachfrauen gefragt: Meine behandelnden Ärztinnen. Die Antwort fiel unisono aus: Na klar, soweit sie sich das zutrauen, machen sie viel Sport.

Ich bin zudem in Gesprächen mit meinem Psychoonkologen, der meinen Weg durch die Krankheit gut begleitet. Und er riet mir dringend, meine sportlichen Vorhaben so schnell wie möglich umzusetzen.

Also passierte, was ich mir nie zugetraut hätte: Ich betrat das Sportgeschäft von Ulf Lunge mit klarer Kaufabsicht.


Ulf Lunge
Das ist eine Institution unter den Hamburger Sportgeschäften. Als einer der ersten Sportschuhläden verkaufte man dort die Schuhe nicht nur, man beriet die Käufer sogar, welcher der optimale Schuh ist. 

Ich geriet an einen freundlichen, leicht introvertierten Verkäufer. Im Gegensatz zu meinem letzten Besuch des Ladens vor fast 20 Jahren war bei diesem Menschen keine Spur von Arroganz erkennbar. Mit meinem Körperbau sehe ich nicht so aus, als wenn ich vorhätte, beim nächsten Marathon zu starten. „Ich bin übergewichtig und Laufanfänger. Haben Sie einen Schuh für mich?“ So in etwa startete das Gespräch.

Er bat mich, einige Schritte auf Markierungen zu gehen. Das durfte ich sechsmal wiederholen. Dann wurde ein Bild von der Stellung meiner Füße am Computer erstellt. Aha: der rechte Fuß rollt sehr stark über die Ferse innen ab, der linke etwas weniger ausgeprägt. Soso. Dann durfte ich ein paar Sprints durch den Laden hinlegen - unter den wachsamen Augen des freundlichen Verkäufers. „Was laufen Sie denn?“ wollte er wissen. „Nun ja, zur Zeit 20 Minuten Intervalltraining: 10 Minuten Laufen, 10 Minuten Gehen., jeweils im minütlichen Wechsel. Aber das Ziel ist: 30 Minuten am Stück durchlaufen.“ 

Dann durfte ich etwas auf einem Laufband laufen. Dabei stellte ich mich - Bewegungslegastheniker - extrem ungeschickt an und fast wäre ich hingefallen. Der Verkäufer schaute dabei freundlich zu und zeigte mir dann die Analyse der Computers: „Oh, so sieht also die Slowmotion meines Laufes von hinten aus.“ Aber nun war klar, welche Art Schuhe auszusuchen war.

Er brachte mir ein Paar, fummelte Spezialeinlagen einen (zur besseren Dämpfung und Stabilisierung der Füße) und hieß mich, diese anzuziehen. Die saßen ganz bequem - und dann durfte ich wieder einige Sprints durch den Laden laufen. Es folgten noch zwei weitere Paar zum Anprobieren, wir testeten den Sitz auf Herz und Nieren - dann endlich war das Paar gefunden, das ich nehmen wollte. Auch dies wurde noch einmal im Sprint erprobt.

Top Beratung! Ohne Beratung hätte ich irgendein billiges Paar gegriffen und mir alle Gelenke und Füße ruiniert. 

Und der Preis? Ich hätte im Internet für dieses Paar Schuhe denselben Preis zahlen müssen - aber ohne Beratung. Mir war es so wesentlich lieber.


Die ersten Runden. 

Und nun laufe ich fast jeden Morgen meine Runden um den Kupferteich bei uns in Farmsen: 1 Minute Laufen, 1 Minute Gehen, 1 Minute Laufen….. usw. Dabei mache ich die Feststellung, dass die Leistungskurve wieder nach oben geht. Treffe ich auf „richtige Läufer“ schaue ich mir deren Technik an.

Es gibt die Plattfußläufer, bei denen jeder Schritt auf dem Untergrund zu hören ist. Platsch, Platsch, Platsch…. Es gibt die Leichtfußläufer, die so elegant aufsetzen, dass ihre Schritte nicht zu hören sind. …. Und es gibt die ökonomischen Läufer, die mit sparsamen Bewegungen, aber sehr kontinuierlich ihr Tempo laufen. Das kann ich mir am ehesten für mich vorstellen.

In der Dämmerung wäre ich fast von einer Radfahrerin angefahren worden. Sie hatte mich wohl nicht gesehen und ich war zu schnell. Mit einem dunklen Anzug wird man nicht so gut gesehen. Also laufe ich jetzt in grellgelb reflektierend. Damit werde ich auf jeden Fall bemerkt. Das Kostüm sieht eigenartig aus, das ist nicht die Farbe, die ich tragen kann - aber rettet meine körperliche Unversehrtheit.

Was denken die Leute eigentlich, wenn ich mit meinen fast 100 KG um den Teich laufe, gehe? Das ist mir schnurzegal. Sollen sie denken, was sie wollen, ich ziehe das durch. Es macht einfach zu viel Spaß - und zahlt auf das wichtigere Ziel ein: Die Wiederherstellung von Gesundheit und das Gewinnen von Kraft, um die Chemotherapie, die noch kommen werden durchzustehen.

Denn darum geht es: Es ist die Fortsetzung meines Kampfes gegen die Krankheit auf einem anderen Gebiet. Und auch wenn ich weiß, dass die Krankheit womöglich stärker sein wird als ich: Kampflos räume ich das Terrain nicht! Da muss sich das MM schon etwas anstrengen, finde ich.


Das neue Sportgerät.


Remission

Das ist das Stadium der Krankheit, das ich nun erreicht habe. Die letzte Knochenmarkspunktion hat das ergeben und ich hoffe inständig, dass das auch so bleibt. Remission heißt nicht, dass die Krankheit endgültig besiegt ist. Der Begriff sagt nur, dass die Krankheit nicht mehr nachweisbar ist und deshalb keinerlei  Aktivität erkennbar ist.

Auf Remission folgt dann in der Regel das Rezidiv (Rückfall). Beim MM ist das 2-3 Jahre im Mittelwert. Meine Therapie endet planmäßig in gut 2 Jahren und hat das Ziel, den Zeitpunkt für das Rezidiv weit nach hinten zu verschieben. 

In Ratzeburg habe ich eine Frau von Mitte 40 kennengelernt, die auch MM hatte. Für sie war nach der Stammzellentransplantation Schluss, weshalb sie sich wunderte, dass es mit mir jetzt noch weitergeht. Da kam kurz bei mir der Gedanke auf, aus meinem Vertrag mit dem UKE auszusteigen und die Therapie an genau dieser Stelle zu beenden. Aber das war nur ein Gedanke: Ich lasse mich von dem Ziel, die Therapie zum Abschluss zu bringen und dem Rezidiv zu trotzen nicht abbringen lassen!

Etwas, das ich durch die Krankheit gelernt habe: Ich denke, plane und handle deutlich zielorientierter als vorher. Dabei überschreite ich Grenzen, die ich bislang für mein Leben als gezogen angesehen haben. Jede Grenzüberschreitung bringt mich weiter an das große Ziel.


Gott in der Tiefe

Mit den Instantheilern, die sich auf dem christlichen Markt, Abteilung Charismata, tummeln, kann ich nullkommagarnix anfangen. Firlefanz, Bauernfängerei, Scharlatanerie, Manipulation… Das ist mein (natürlich ganz subjektiver) Eindruck, den ich von dieser Szene gewonnen habe. Sie beten einen Schnupfen weg, „verlängern“ ein paar Beine und lassen sich Zeugnisse geben über das sofortige Verschwinden von psychosomatischen Beschwerden und „inneren Verletzungen“ - so schön das für die Betroffenen dann auch ist - aber mit ernsthaften Krankheiten haben sie ihre Probleme. 

Nein - ich glaube ihnen nicht.

Glaube ich denn, dass Gott mich heilt? Dass Er mich heilen kann?


„Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe lügt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt (Jesaja 53:5).“

Ich vertraue darauf, dass Jesus meine Heilung ist, ganz egal, ob sich diese Heilung auch auf meine körperliche Heilung auswirkt oder nicht. Wer sich im Gebet an Jesus wendet, der ist schon geheilt.  Aus der Erfahrung der letzten acht Monate Chemotherapie und Stammzellentransplantation und erneute Chemotherapie kann ich mit Freude sagen, dass ich diesen Weg ohne Jesus nicht hätte gehen können. Es steckt halt viel mehr Kraft und Heilung im Glauben an den Gottessohn, die mich die tiefsten Tiefen von Krankheit durchstehen hilft.

Das Instant-Heilungsprogramm mancher christliche Verkündigen mag unterhaltend sein, ich kann damit nichts anfangen.

Jesus gibt Frieden mit Gott - darauf kommt es an.


In diesem Sinne grüßt Euch herzlich Alsterstewart.

Dienstag, 26. September 2017


26. September 2017 (Dienstag)

Ratzeburg ist sehr schön. In der eiszeitlichen Endmoränenlandschaft wechseln sich Erhebungen und recht tiefe Seen ab. Um die Seen erreichen zu können, muss man erstmal von den Höhenzügen herabsteigen. Will man von dort in die Stadt oder in die Wohngebiete, muss man wieder hinaufklettern. Das erfordert auch Kondition. 

Die Stadt Ratzeburg selbst liegt auf einer Insel, die den nördlich gelegenen Ratzeburger See vom südlichen Küchensee abgrenzt. Zwei Nebenseen komplettieren das Setting: Der Domsee und der kleine Küchensee, der auch "Spucknapf" genannt wird. Die Stadt wird gekrönt durch den romanischen Dom, der sich auf einem Felsen über der Stadt erhebt und weithin sichtbar ist. Der Stadt selbst merkt man die Verwüstungen des Krieges mit Dänemark Ende des 17. Jahrhunderts an. Damals zerstörten dänische Kanonen die mittelalterliche Stadt. Aus diesem Grund finden wir in Ratzeburg viele barocke Fassaden. Auch die etwas jüngere Stadtkirche St. Petri ist im barocken Baustil gehalten und eine der wenigen Querschiffkirchen in Norddeutschland.

Prädikat für Stadt und Umgebung: Unbedingt sehenswert, wunderschön.

Hier habe ich nun also meine Rehabilitation verbracht.


Blick auf den Ratzeburger Dom

Die onkologische Rehaklinik liegt tief im Süden von Ratzeburg. Sie atmet schwer den Baustil der frühen 70er Jahre. Das heißt: Beton pur. Den Baustil nennt man "Brutalismus" (wirklich!), was aus den französischen Wörtern béton brut (roher Beton) abgeleitet ist
An einigen Stellen lockern Anbauten aus den 90ern den grauen Brutalismus des gewaltigen Komplexes auf. Abweisend? Nun ja: Von außen nicht gerade einladend.

Reha ist nicht Kur. Das habe ich schon am zweiten Tag erfahren. Bei einer Kur wandelt man Wässerchen trinkend durch die Wandelhalle, lässt sich Fangopackungen verabreichen und lauscht den Konzerten, die das Kurorchester im Kurpark zum Besten gibt. Das ist aber keine Reha. Reha heißt: Anwendungen! Und die Anwendungen sind in meinem Fall "autogenes Training", "progressive Muskelentspannung", diverse Seminare und ganz viel Sport. Gaaaanz viiiiiieeel Sport.

So starte ich jeden Morgen vor dem Frühstück mit 20 Minuten Intervalltraining (eine Minute Joggen, eine Minute Gehen im Wechsel). Dann schließen sich im Laufe des Tages Bewegungsspiele an, Wassergymnastik, Walkinggruppe und der "Kraftraum", in dem Ergometer und diverse Muskelaufbaumaschinen zur Verfügung stehen. Und ja: Ich habe das alles mitgemacht. Ich habe mich sogar dabei ertappt, wie ich freiwillig um den Küchensee gewalkt bin. Ganz allein. Niemand hatte mich dazu gezwungen. Gehirnwäsche.

Reha ist also: Boot Camp, jedenfalls die onkologische Reha. 

Verbesserungswürdig ist das Essen. Das kommt aus der Großküche des nahegelegenen riesigen Altenheims - und ist dementsprechend auf Senioren abgestimmt. Salzarm, das Gemüse immer schön zerkocht. Am schlimmsten war für mich ein Nudelmassaker: Als Penne deklarierte Nudeln hatten sich vor meinen Augen bereits in ihre atomaren Bestandteile aufgelöst und erwarteten mich auf dem Teller als ein matschiger Nudelbrei.
OK, da muss man durch. Und das alles, obwohl viel Wert auf gesundes Essen gelegt wird. Einen Schokopudding als Nachtisch? Nicht hier! Statt dessen: Beerenbrei mit fettreduzierter Dickmilch. Na dann.

Und jeder, der hier ist, hat seine Krebsgeschichte. Da sitzt mir heute morgen ein sportgestählter Mittfünfziger gegenüber. Ich hatte ihn beim Intervalltraining kennengelernt. Er joggte mit Leichtigkeit an uns allen vorbei. Beim Frühstück erzählte er von den diversen Sportarten, die er gerne und ausdauernd betreibt. "Jetzt muss ich aber los" sagte er kurz vor neun Uhr. "Wohin?" wurde er gefragt. "Zum Beckenbodentraining" antwortete er. Also: Prostatakrebs. 

Hier sind viele vor allem ältere Männer unterwegs, die alle ein Schicksal teilen: Krebs an der Prostata. Jetzt sind viele inkontinent und müssen zum Beckenbodentraining.

Frauen mit Brustkrebs, einige davon noch mit grotesk angeschwollenen Armen.

Allerlei Menschen mit Lungenkrebs, die sich dann im Raucherpavillon zum Austausch treffen. Auch hier sind die Raucherecken die fidelsten Klönschnackpunkte. Da ist das soziale Leben zu Hause.

Lymphome gehen spazieren mit Knochentumoren.

Ein Aushang im Foyer: "Wer möchte sich mit mir über Multiples Myelom austauschen?" (Ich nicht!)

An einem Morgen saß ich mit einer älteren Frau aus Halle bei Tisch. Leukämie. Mit großem Humor berichtete sie von ihrer Stammzellentransplantation. Sie hat die Stammzellen eines Spenders erhalten, "meine eigenen waren zu kaputt". Und dann: "Ich habe drei verschiedene Hautfarben bekommen: der Rücken war bräunlich, die Oberschenkel schwärzlich und der Rest weiß." Das kam nicht etwa traurig, sondern unter beständigem Gelächter. 

Das Gute: Jeder hier hat seine Krebsgeschichte. Lange Erklärungen sind nicht erforderlich. Und die Erfahrungen, die hier im Raum sind, ähneln sich. Immer: Schock! Akzeptanz! Therapie! Remission! Rezidiv! Therapie! Operation! Bestrahlung! Chemo! .....

Nur wenigen siehst du die Krankheit an. Ja klar, es gibt hier mehr Menschen mit Glatzen oder wieder einsetzendem Haarwuchs. Aber sonst....? Und dennoch: Du siehst nur die Fassade von außen. Viele sind hier wie Potemkinsche Dörfer.

Und wie geht es so psychisch? Och ja.... Heute berichtete mir eine Frau, wie sie sich im sozialen Klima zu Hause allein gelassen fühlte. "Man ist ja als Kranker aus dem Gleichgewicht - und da braucht man andere Menschen, die ihr Gewicht auf die Waage legen, damit man sich wieder einpendelt. Und das wird manchmal vergessen." Hier in der Reha gibt es kein Vergessen der Krankheit. Auch wenn er nicht angesprochen wird, ist der Krebs immer präsent.

Ich treffe tief Traumatisierte, die sich keine Gedanken darüber machen wollen, dass der Krebs ihnen die Endlichkeit und Zerbrechlichkeit des Lebens sichtbar gemacht hat. Und ich treffe hier Menschen, die gehen spielerisch mit ihrer Krebsgeschichte um.

"Manche Menschen malen hier ihren Tumor" sagte die Ergotherapeutin, als sie mich mit einigen anderen hier in die Ergotherapie (Malen, Gestalten, Flechten) locken wollte. Och nö, dachte ich, das will ich bestimmt nicht. Diesem elenden Nichts, das sich ungefragt und nicht eingeladen in mein Leben gedrängt hat, will ich nicht noch ein Gesicht geben.

Ach, ich bin so vergesslich. Ich kann keinen Gedanken klar zu Ende denken. Ich ertrage keinen Stress. - Das geht hier vielen so. Wer das Tor zur Chemo durchschritten hat, der macht diese Erfahrungen.

Und nun neigt sich diese Zeit dem Ende zu. Habe ich bahnbrechende Lebensentscheidungen hier getroffen? Nein. Warum auch? Alles hat seine Zeit. Und die Auseinandersetzung mit meinem Krebs ist nicht zu Ende, schon in wenigen Tagen erwartet mich der Chemotherapie dritter Teil.

Und wo bitte, lieber Stefan, ist Dein Glaube? 

Ich habe hier Gott unter anderem in den Gottesdiensten erfahren, die ich an zwei Sonntagen im Ratzeburger Dom mitgefeiert habe. Das waren normale landeskirchliche Veranstaltungen mit der üblichen lutherischen Liturgie. Und dennoch durfte ich mich in die Liturgie und die herrlichen Lieder einfach fallen lassen. Es war zuweilen wie ein Nachhausekommen. Gott schloss mich in Seine Arme. Habe ich Christus in den letzten Jahren als einen Fordernden gesehen, so durfte ich nun erkennen, wie sehr ich damit auf dem Holzweg war. Christus ist der, bei dem die Liebe zuerst kommt. Und dann noch einmal die Liebe. Ich gehöre nicht zu Ihm, weil ich mühe, Seinen Forderungen nachzukommen, sondern ich gehöre zu Ihm, weil Sein Wort es mir zuspricht. "Ich habe dich je und je geliebt, ich habe dich zu mir gezogen aus lauter Güte" (Jeremia 31:3) und "ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein." (Jesaja 43:1).

Und dann noch am letzten Sonnabend bei der Aufführung des Oratoriums "Die Schöpfung" von Joseph Haydn, ebenfalls im Dom. 

Ich spüre, wie sich mein Glaube verändert. Mit dem "Hurra, hurra, die Post ist da!", "hoch die Hände, Wochenende" - Christentum kann ich nichts mehr anfangen. Die lärmende Kulisse wird beiseite geschoben und meinem Blick öffnet sich die ganz und gar die Geborgenheit in der abgrundtiefen Liebe Gottes. Da versagt meine Stimme. Da verklingen die Lieder. Da kommt der Lärm zum Erliegen. Es ist ganz und gar musikalische Schwingung und dennoch von tiefer Ruhe und tiefer Stille geprägt. "Zieh die Schuhe aus, denn der Boden auf dem du stehst, ist heilig" (2. Mose 3:5). 

Gottes Liebe trägt - auch im Sturm.

Seid herzlich gegrüßt, Alsterstewart
















Mittwoch, 20. September 2017


20. September 2017 (Mittwoch)


Ratzeburger Aphorismen


In die Seele des Kranken sind Löcher gerissen, die Klüften gleichen. Sie sind so dunkel, dass sie nicht gesehen werden...

Menschen sind unterwegs und gehen die Straße des Lebens vorwärts. Immer vorwärts. Ab und zu werden einige von ihnen langsamer, drehen sich, winden sich, bleiben liegen, berappeln sich, gehen im Kreis, verlieren den Anschluss. Sind sie noch in Rufweite der Vorwärtsschreitenden? 

Die Schwäche des Starken: Er sieht die Löcher in der Seele des Schwachen nicht.
Die Stärke des Schwachen: Er versteckt die Löcher in seiner Seele nicht.

Die Schwierigkeit des Kranken zu entscheiden, wann ist Zeit zum Kampf und wann ist Zeit zum Loslassen?

Worin bestand die größte Leistung von Hiobs Freunden? Sie hörten ihm zu - und trauerten mit ihm. Ach, mag Hiob gedacht haben, hätten sie es doch dabei belassen.


Im „Nein“ des Kranken versteckt sich oft ein „Ja“.

Mittwoch, 6. September 2017


5. September 2017 (Dienstag)

In den letzten Tagen hatte ich häufig leichte bis mittlere Schmerzen in der linken Schulter. Diese weiteten sich vom Schulterblatt auf große Teile des Schultergelenks, von dort in den hinteren Rippenbogen und dann sowohl den linken Arm hinunter als auch zur rechten Schulter hinüber aus.

Eine Verspannung? Etwas Harmloses?

Diese Schmerzen kamen mir bekannt vor. Ebenso auch der Gedanke an eine lästige, aber harmlose Muskelverspannung. So dachte ich doch bereit vor einem Jahr - und dann war das doch etwas Bösartiges. Jetzt also wieder bösartig? Klar, dass hier tiefe Ängste, die sich aus üblen Erinnerungen speisen, angetriggert wurden. In den Tiefen meines Bewusstseins schlich sich eine Ahnung ein: Der Krebs ist wieder da - oder könnte wieder da sein - oder könnte nie wirklich weggegangen sein. Habe ich nicht bereits solche Geschichten von MM-Patienten gelesen: Mit einem Mal war der Krebs wieder da, trotz allem?

Wir haben halt so Erfahrungen.

Und nun?

Klar, dass die Psyche nun verrückt spielt.

Da traf es sich gut, dass ich gestern zur Knochenmarkpunktur (KMP) in die Onkologie des UKE musste. Die KMP ist ein Standardverfahren zur Gewebeentnahme direkt aus dem Knochenmark. Hierzu wird in der Regel bei lokaler Betäubung mir einer Nadel fest in einen Beckenknochen hineingestoßen und dann dort Gewebe entnommen. Die Analyse des Gewebes dient dem Nachweis, ob sich im Gewebe Krebszellen befinden. An und für sich ist die KMP unangenehm, man spürt Druck und bekommt auch mit, wie dem Körper Substanz entnommen wird. Bei mir ist die KMP erforderlich, um das an und für sich erfreuliche Blutergebnis von Juli zu bestätigen - oder zur widerlegen.

Im Gespräch mit der Ärztin, die die KMP durchführen sollte, kam ich auch auf die Schulterschmerzen zu sprechen und auf die damit verbundenen Gedanken und Ängste. Für die Onkologin war das nicht ungewöhnlich: Es sei klar, meinte sie, dass ich da Schmerzen habe. Aber diese Schmerzen könnten nicht mehr vom Krebs herrühren, das gäbe das Blutbild nicht her. Statt dessen seien dies die kleinen Brüche, die sich halt bei bestimmten Anlässen (wie etwa körperliche Erschütterungen) oder auch ohne Anlass bemerkbar machen. Knochengewebe braucht seine Zeit, um wirklich auszuheilen. Sie ließ dann noch einige Ausführungen zum Thema "Krebs und Psyche" folgen, die ich hier noch nicht weitergeben möchte, und meinte dann: "Ihre Schmerzen kommen nicht vom Krebs". Um das Thema dann abzuschließen betastete sie noch meinen Rücken und meine Schultern. Das Ergebnis: Meine Muskeln sind links total verspannt, das sind die Schmerzausstrahlungen von der Schulter her.

Ich durfte mich entspannen, als sie mir sagte, dass die Muskel verspannt sind. Kurios. Und nun ließen die Schmerzen in der Schulter und mit ihnen die Schmerzen im Oberkörperbereich allmählich nach. Nun bin ich annähernd schmerzfrei.

Übrigens: Während die Onkologin die KMP vorbereitete, erhielt sie einen Telefonanruf. Anscheinend ein dringender Fall. Ich bekam mit, wie sie "das können wir nur noch lokal eingrenzen", "da haben wir nur noch palliative Möglichkeiten" und "dann müssen wir leider den Dinge ihren Lauf lassen" ins Telefon sprach. Während dessen lag ich da und wartete auf die KMP. Was ging mir dabei durch den Kopf? Nur zwei Sachen: "Der arme Mensch, über dessen Schicksal sie spricht" und "die Krankheit ist ernst". So ist es.

Nebenbei: Nach der KMP musste ich noch eine Stunden liegenbleiben. Als ich dann aufstand, war die Welt anders. Jedenfalls für mich. Denn ich hatte komplett unterschätzt, dass die KMP ein tiefer Eingriff in meinen Körper gewesen ist. Die Beinen sackten mir weg, kein Wunder, denn der untere Rückenbereich ("Hintern" und Co) war noch leicht betäubt. Zudem drehte sich die Welt um mich herum, der Blutdruck kam nicht so ganz mit. Ich fühlte mich gelähmt und musste mir jeden einzelnen Schritt genauerstens überlegen. So schwankte ich unvernünftigerweise Richtung UKE-Ausgang, machte da aber kehrt und setzte mich zur Erholung auf eine Bank im UKE. Ich kenne mich da ja inzwischen gut aus. Ich hätte hinfallen können, da die Beine mir den Dienst versagen wollten. 

Glücklicherweise ist nichts passiert. Nach einer halben Stunde Wartezeit auf der Bank konnte ich dann befriedigend gehen. Auch der Schwindel legte sich nach einer Mahlzeit wieder.



6. September 2017 (Mittwoch)

Morgen werde ich zur Reha nach Ratzeburg starten. Ich bin natürlich gespannt, was mich dort erwartet. Hoffentlich viel Gutes.

Was möchte ich da eigentlich?

Ich wünsche mir sehr, wieder eine Beziehung zu meinem Körper aufnehmen zu können. In den letzten Monaten ist mir mein eigener Körper etwas fremd geworden. Und das liegt daran, dass er sozusagen von einem auf den anderen Moment von "gesund" auf "todkrank" umschaltete (jedenfalls kam mir das so vor). Die Schmerzen, die Unsicherheit, die Nebenwirkungen der Chemotherapie, die Nebenwirkungen der Medikamente gegen die Nebenwirkungen, die Thrombose, Embolie, Gewichtsabnahme, Gewichtszunahme, das Kortison, die Krebsmedikation, Bluthochdruck, Blutniedrigdruck, Blutungsrisiken, Zelltief, Übelkeit usw..... Kurz und gut: Mein Körper fühlt sich anders an als vor einem Jahr.

Und das nervt mich!

Es ist bedrückend, wenn ich mir gewahr werde, dass ich für den Start eines kurzen Sprints zum Bus überlegen muss, wie ich den Sprint überhaupt ansetze. Es ist richtig niederdrückend, wenn ich meinen Jakob auf dem Spielplatz nicht von einem Gerüst herunterhelfen kann. Mal ist Schwimmen verboten, mal wird mir vom Fahrrad fahren abgeraten, mal sind Treppen für mich herausfordernd, mal fehlt es woanders.

Kurz und gut: Das muss sich ändern.

Während der Reha gibt es sicherlich ausreichend Möglichkeiten, Körper und Seele wieder zueinander finden zu lassen. Das ist für mich da das Wichtigste überhaupt.

Sollte ich dort über WLAN verfügen, wird der Blog auch während der Reha fortgeführt. Sonst mal kucken.


Wie soll es eigentlich weitergehen?

Ehrlich gesagt weiß ich das noch nicht. Ich lerne, dass ich mit meinen Planungen nicht immer weiterkomme. Vieles zerschlägt sich und einiges kommt dann doch anders als geplant. Es ist aber sicher, dass die Prozeduren im UKE mit mir noch ca. 2 Jahre weitergehen werden. Die Intensität soll nachlassen und meine Unabhängigkeit vom UKE sukzessive größer werden. Das ist auch bitter nötig.

Ich sehne mich nach bald 10 Monaten Krebs und Krebstherapie nach Normalität. Einer der Träume von Glück, die ich habe, lautet: "Ich möchte morgens aufstehen und absolut keine Lust zur Arbeit haben." Das aber wird noch dauern.

Stärker noch wird mich die Erkenntnis beschäftigen, wie zerbrechlich das Leben ist. Was ich heute als selbstverständlich erachte kann morgen schon dahin sein. Die Frage ist dann: Wie nutze ich die Zeit, die ich habe? Das geht problemlos für mich mit schlechter Laune und Pessimismus. Und zwar berechtigt, ich weiß schließlich, wie schnell das Glück dahin ist. Mit Pessimismus aber verderbe ich meiner Umwelt und mir das Leben, er vergiftet die Seele und das Herz. Warum nicht die Alternative wählen? Es geht doch auch mit Genuss durchs Leben, eben weil es morgen schon ganz anders aussehen kann. Genuss. Lebensfreude. Vielleicht auch Optimismus. Nur so komme ich weiter.

Herzliche Grüße, Alsterstewart



Freitag, 25. August 2017


25 August 2017 (Freitag)

Warum so lange nichts mehr in diesem Blog? Ist nichts Neues mehr passiert? Geht es dir gut?

Derzeit ist mein Mitteilungsbedürfnis nicht so stark ausgeprägt. Zudem habe ich immer einen gewissen Anspruch an das, was ich schreibe. Und dabei mache ich oft genug die Erfahrung, dass nicht jeder Gedanke den Transport aus dem Kopf in den Blog 1:1 schafft. Die vielen Abstriche, die ich machen muss, nerven mich dann doch.

Nun gut. Der Worte sind nun genug gewechselt, lasst uns endlich Taten sehen (Goethe):


Die gute Nachricht

Der Anruf kam vor ein paar Wochen. Meine Onkologin meldete sich um mir mitzuteilen, dass der Krebs im Blut nicht mehr nachweisbar ist. Freilich muss das noch durch eine Gewebeprobe bestätigt werden, aber im Blut ist null. Das war doch eine gute Nachricht, vielleicht die erste wirklich gute Nachricht in den letzten Monaten was die Krankheit angeht. Natürlich habe ich mich gefreut.

Zudem fühle ich mich seit meiner Entlassung aus der Hochdosistherapie von Tag zu Tag körperlich besser. Meine Kondition ist besser geworden, ich kann sogar Fahrrad fahren.

Also alles gut?

Wenn es denn so einfach wäre.

Tatsächlich läuft mein Seelenleben derzeit auf Sparflamme. Bedingt durch den Dauerstress der letzten Monate ist meine psychische Belastbarkeit deutlich begrenzt. Ich litt zuerst sehr stark an Fatigue (seelischer Erschöpfungszustand, deutlich erhöhtes Schlafbedürfnis, dauernde Müdigkeit), das aber ist mittlerweile eingedämmt. Aber es bleiben Reizbarkeit, Stressausbrüche, Vergesslichkeit im Kurzzeitgedächtnis und viele, sehr viele negative Gedanken.

Meine Seele verarbeitet noch, was der Körper mitgemacht hat.

In der Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen komme ich mehr und mehr auf den Gedanken, dass das Angeschlagensein der Seele einfach zur Krankheit dazugehört. Es ist kein Anzeichen von charakterlicher Schwäche, sondern eben von Krankheit. Das wird noch ein bisschen dauern, bis das wieder im Lot ist.


Die nähere Zukunft

Der Antrag ist bewilligt: Im September geht es zur Reha nach Ratzeburg. Ich weiß noch nicht so genau, was mich dort erwartet. Aber ich werde drei Wochen da bleiben.

Was erhoffe ich dort?

Vielleicht, dass meine Seele zur Ruhe kommt und mir die Gelegenheit gibt, endlich einmal einen guten Gedanken zu Ende denken zu können. Oder dass ich meine körperliche Befindlichkeit trainiere. Warum nicht auch den seelischen Stress durch Sport ableiten, wie das so viele Menschen machen. Laufen, Radfahren, Schwimmen....

Leider war ich nie sonderlich sportlich. In Sport war ich in der Schule und bei der Bundeswehr immer eine Niete. Und viel zu viele Menschen haben mir in diese Jahren eingeredet, dass ich der Sport und ich nicht zusammenpassen. Die Ergebnisse waren dementsprechend: Wie komme ich bloß auf das Reck? Wie befördere ich den Basketball am einfachsten in den Korb? Wie ziehe ich an den Riemen, damit das Ruderboot auf der Alster vorwärts kommt? Wie schaffe ich den 5000 Meter-Lauf in der Sportabzeichenzeit?

OK, im Schwimmen war ich gut. Tanzen ging auch. Aber ansonsten: Dort, wo es andere mühelos gelang, über ein Kastenhindernis zu springen, gelang mir weder der Absprung noch der Weg über den Kasten. Ein Bundeswehr-Sportlehrer (Oberstabsfeldwebel) sagte zu mir: "Du bist eben ein Spasti".

Alles gelogen! Sport kann jeder, ich auch. Und jetzt geht es ums Überleben. Also: Ran.


Die weitere Zukunft

"Also, jetzt da der Krebs weg ist, kann das Leben ja weiterlaufen." habe ich gehört. Schön wär´s.

Nein, es ist anders.

Zunächst stehe ich vor einer neuen Rückenmarkspunktion, die eine Gewebeprobe zum Ziel hat. Aus dem Knochenmark wird Gewebe entnommen, das dann auf den Krebs MM untersucht werden soll. Ist auch da der Krebs nicht mehr nachweisbar, wovon ich tatsächlich ausgehe, dann können wir von der Krebs-Remission ("Heilung") sprechen - auch wenn wir medizinisch davon ausgehen müssen, dass MM eines Tages wiederkommen wird.

Ich lauf dann durch eine neue Chemotherapie, die 6 Wochen lang so ablaufen wird wie die ersten vier Zyklen von Januar bis April. Diese startet Ende September und soll den Jetztstand konsolidieren. Ist das durchlaufen schließen sich knapp zwei Jahre sogenannter Erhaltungstherapie an, in der mein Remissionsstand konserviert werden soll. Auch da erhalte ich Medikamente en masse und Infusionen. Es wird also anstrengend - aber lohnend.

Es geht um mein Leben.

Herzliche Grüße, Alsterstewart








Freitag, 14. Juli 2017


14. Juli 2017 (Freitag)

Vorgestern hatte ich einen Blogpost abgesetzt, der im Wesentlichen schilderte, was sich in der Krankenhauszeit so zugetragen hat. Was etwas untergegangen ist: Wie sieht es in meinem Inneren aus? Keine Sorge, das hier ist nicht der Ort für umfangreiche Seelenstriptease, aber das eine oder andere ist es durchaus wert, reflektiert zu werden.


Dankbarkeit und Demut

Zwei Zimmergenossen haben mir gezeigt, wie gut ich es eigentlich habe. Der jüngere Mann mit dem Lungenkarzinom, dem Tode nahe, hat mir verdeutlicht, wie sehr meine Position dem Leben deutlich nahe liegt. Und der Flugzeugbauingenieur, der ebenfalls mit MM zu kämpfen hat, litt unter starken Schmerzen - vom Beginn seiner Krankheit an bis zum Krankenhaus, wo er in etwa dieselbe Behandlung wie ich erfuhr. Starke Schmerzen, nein, die hatte ich die ganze Zeit über nicht. Schmerzen ja, auch unangenehme, die Bewegung einschränkende, die hatte ich - aber so richtig stark? Das eher nicht. Und seit Ende Februar bin ich weitgehend schmerzfrei.

Vergleiche ich meine Lage mit der dieser beiden Leidensgenossen, dann habe ich allen Grund zur Dankbarkeit. Mir sind solche Schmerzen und Schwierigkeiten Gott sei Dank erspart geblieben. Gerade der Vergleich mit ihnen macht deutlich, dass ich allen Grund zur Dankbarkeit und zur Demut habe. Das Schicksal hat auch mich hart getroffen, aber das Allerschlimmste ist nicht eingetroffen. Bei mir gab es nichts, was die Stabilität meines Skeletts gefährdete, was sonst bei vielen MM-Patienten der Fall ist. Mikrofrakturen im Schulterbereich, that´s all. 

Die Hand Gottes ist über mir. Das erfüllt mich mit Dankbarkeit und Demut.


Blick aus meinem Zimmer 422, UKE, O 24, hinten der Fernsehturm


Der Wert des Besuchs

Man sagt mir nach, dass ich Menschen gerne auf Distanz halte. Das mag stimmen. Vieles, was heute als Sozialisation üblich erscheint, ist mir fremd. Ich mag keinen Small-Talk, kein Netzwerkknüpfen, keine Teamseminare und ähnliches. Ein gutes Buch, ein guter Gedanke, etwas, woran mein Geist kauen kann, das ist mir viel wert.

Im Krankenhaus aber waren Besuche willkommene Unterbrechungen der Routine. Ich habe viel gelegen und dabei vor mich hin gedacht. Die Konzentration reichte oft nicht aus, um eine Buch zu lesen oder fernzusehen. Wenn dann die Tür aufging und ein lieber Mensch zu Besuch kam, habe ich mich durch die Bank weg gefreut. Endlich ein Mensch!

Jesus selbst beschreibt den Krankenbesuch als etwas, das für die Beziehung zwischen Menschen eminent wichtig ist. "Ich war krank, und ihr habt mich besucht." Die Freude ist beim Kranken, der besucht wird und dem es schlecht geht. Und der Besucher nimmt am Leiden des Kranken Anteil: "Du bist nicht vergessen." Indem der Kranke vermittelt bekommt, nicht vergessen zu sein, kann er wieder am Leben der Menschen teilhaben. So ging es mir, wenn meine Frau, meine Mutter, mein Bruder, liebe Freunde zu Besuch kamen.

Übrigens geht es mir auch so, wenn der Blog kommentiert wird. ;-)

Menschen sind wichtig, wichtiger vielleicht als ein Buch, ein Gedanke.


"Lohnt sich das?"

Mir ist bewusst geworden, dass das Leben blitzschnell zu Ende gehen kann. Von einem auf den anderen Moment kann der Vorhang fallen. So wie er bei mir gefallen ist, als es hieß: "Ja, Sie haben Krebs." Das verändert alles.

Die Lehre, die ich bekommen habe, lautet: Dein Leben ist endlich. Tue also mit dem, was Dein Leben ausmacht, etwas Relevantes. Wenn ich heute sterbe, dann möchte ich meine Zeit bis dahin teuer ausgekauft haben, wie es der Apostel Paulus ausdrückt: "Nutzt die Zeit aus, denn es ist böse Zeit."

Wie kaufe ich die Zeit aus? Es geht darum, Prioritäten zu setzen und entsprechend dieser Prioritäten dann zu leben. Dazu überlege ich mir, was ich in meinem Leben vor dem Krebs getan habe - und was ich davon in mein Leben mit dem Krebs noch hinübernehmen möchte. Bei vielen Sachen ist mir klar geworden: Das hat keinen Wert. Bei anderen Dingen weiß ich, dass ich sie nicht aufgeben möchte oder kann. Schließlich gibt es die Kategorie von Sachen, bei der ich nicht weiß, wie mit damit verfahren möchte.

Gerade Letztgenanntes ist schwierig. Und da fällt mir die Formel ein, die ich einst bei einem Personaltrainer lernte, den mein Arbeitgeber engagiert hatte. Er nannte sie "LSD - Lohnt sich das?". Wenn ich Für und Wider abgewogen habe und kein Ergebnis habe, dann bleibt LSD und damit ein nüchterner Blick auf das Szenario.

Ich gestehe, dass ich Familie, Freunde, Arbeit, Glaube nicht auf den Prüfstand stelle. Das gehört zu meinem Leben dazu, daran ändert auch der Krebs nichts. Aber die Ausgestaltung, die Prioritätensetzung mag sich ändern. Da wird einiges durcheinandergewirbelt.

Aber bei vielem anderen stellt sich dann doch die Frage: LSD? Lohnt es sich, dass ich eine Sache verfolge, hinter der ich nicht mehr stehen kann? Wie viel Zeit verschwende ich darauf, die ich andernorts gewinnbringend investieren kann? Hier wird es noch in diesem Jahr Entscheidungen geben, die sicherlich nicht jedem gefallen werden.

Aber die Leute, die Hoffnungen in dich setzen, denke ich dann. Tja, die müssen dann eben umdenken. Es ist mein Leben. Ich habe nur dieses. Und ich bin Gott verantwortlich für das, was ich mit dem Leben anfange. Vielleicht ist es nur mein Geltungsbedürfnis, das nach Anerkennung schreit? Na und!


Also vieles ist offen, manches wird neu, anderes bleibt, wieder anderes erscheint in neuem Gewand.

Liebe Grüße, Alsterstewart